Bücher- und Filmbesprechungen

Zur Beachtung;

Ab Januar 2022 geht es rund um meine Bücher- (und Film-) Besprechungen auf der neuen Seite (Bücher ab 2022) weiter!  

 

Ich bin ein Bücherwurm....

Ich bin ein "Bücherwurm", und schon früh, ab dritter Primarklasse, wurde das Bücherlesen für mich zu einem echten Hobby, einer Leidenschaft sogar, gewissermassen zu einem Teil meines Lebensstils! Als Jüngling galt ich ein bisschen als Sonderling, da ich mich (wenn Gleichaltrige auf dem Sportplatz herumtollten) immer wieder in mein Zimmer zurückzog und mich stundenlang in ein Buch vertiefte. Und dies ist bis heute bei mir so geblieben!

Bücher spielten in unserer Familie, auch bei meinen Vorfahren, immer eine recht grosse Rolle. Mein Vater zum Beispiel war sehr stolz auf seine recht grosse Bibliothek in unserem Wohnzimmer. Immer wieder wurden neue Bücher  angeschafft, gelesen und auch heiss diskutiert. In dieser "Leseumgebung" wurde ich gross.

Sogar einer meiner Urgrossväter hatte zu seiner Zeit etwas mit "Büchern" zu tun. Er gründete in Huttwil die Buchdruckerei Schürch. Dort wurde nicht nur der "Unter-Emmenthaler"  (das lokale Käsblatt!) herausgegeben, sondern alle Arten von weiteren Druckprodukten, von Todes-, Geburts- und Vermählungsanzeigen bis zu Broschüren und auch Büchern wurde dort alles gedruckt und unter die Leute gebracht!

Ein anderer Grossvater von mir, er wirkte als Gefängnisdirektor in Zürich anfangs des 20. Jahrhunderts, hatte beruflich sehr viel mit "Bücherlesen" zu tun. Er war einer der Schweizer Pioniere in Sachen Gefängnis-Bibliotheken - dies zu einer Zeit,  als es so etwas eigentlich noch gar nicht gab - nicht geben durfte! Den Inhaftierten wurde ein solches Vergnügen nicht zugestanden! Aus den Tagebüchern meines Grossvaters habe ich erfahren, dass er damals während seiner Wirkungszeit engen Kontakt zu norddeutschen Rabbinern pflegte, die offenbar in der Gefangenenbetreuung das Bücherlesen als sinnvoll und therapeutisch wichtig erachteten und bewusst förderten! In der Schweiz war so ein Ansinnen, die Gefängnisinsassen (also Verbrecher!) mit "Büchern" zu verwöhnen, etwas ganz Neues! Es scheint, dass mein Grossvater hier richtige Pionierarbeit geleistet hat! Heutzutage ist eine Gefängnisbibliothek nicht mehr wegzudenken.

Vielleicht kommt von dorther die allgemeine Bücherleidenschaft der Schürchs! Und diese Leidenschaft teile nicht nur ich, sondern offenbar auch meine Nachkommen!

Hier auf dieser Seite möchte ich einige aktuell gelesene Bücher, die ich als lesenswert betrachte, Bücher, die mich bewegten, die mich konfrontierten aber auch befruchteten, kurz vorstellen! Ich möchte hier auch Filme, die mir etwas sagen, präsentieren. Diese hier präsentierten Bücher und Filme sind eine Auswahl! Es würde zu weit führen, alle von mir besuchten Filme und alle jetzt gerade gelesenen Bücher hier Revüe passieren zu lassen! 

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Sie finden zuerst eine Zusammenfassung der Buchtitel und gerade anschliessend folgen dann die detaillierten Buchbesprechungen (also scrollen!) 

2021

  • Ayelet Gundar-Goshen: "Wo der Wolf lauert"
  • Zeruya Shalev: "Schmerz" 
  • Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer"
  • Arnon Grünberg: "Besetzte Gebiete"   
  • Zeruya Shalev: "Schicksal"
  • Yishai Sarid: "Monster" und "Limassol"
  • A Promised Land, Barack Obama (Autobiographie)
  • Siegerin, von Yishai Sarid
  • ARTE: Fernsehserien: In Therapie, Hazufim, MUM etc. 
  • A.M. Homes: "Die Tochter der Geliebten"
  • Alfred Bodenheimer: "Der böse Trieb - ein Fall für Rabbi Klein 
  • Viktor E. Frankl: ... trotzdem ja zum Leben sagen 

2020

  • Viktor E. Frankl - Was nicht in meinen Büchern steht: Lebenserinnerungen
  • Friedenskanzler? Willy Brandt zwischen Krieg und Terror (2018) Michael Wolffsohn
  • Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? (2020) Manfred Lütz
  • Als Partisan im französischen Widerstand (2006) Herbert Herz
  • Alfred Adler, die Vermessung der menschlichen Psyche (Alexander Kluy)
  • OLIVER SACKS und seine Bücher...
  • Wie bedingungslose Liebe Leid bringt: David Grossman
  • Deborah Feldmann: ein Bild von Pierre Heumann 
  • Rachel Naomi Remen: "Aus Liebe zum Leben"
  • Nir Baram: «Erwachen»
  • "Zwei alte Frauen", von Velma Wallis
  • "Wann, wenn nicht jetzt? von Primo Levi
  • Ken Follet: Fall of Giants, und Lukas Hartmann: Ein Bild von Lydia
  • Diese verdammten liberalen Eliten - Wer sie sind und warum wir sie brauchen - von Carlo Strenger
  • Filmbesprechungen: Marriage Story, The Joker, Als Hitler das rosa Kaninchen stahl 

2019

  • Jitzchak Rabin - Als Frieden noch möglich schien (Eine Biografphie) von Itamar Rabinovich
  • „Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin“, von Thomas Meier
  • "Das Verschwinden der Stephanie Mailer", von Joel Dicker
  • "Und Sie hatten nie Gewissensbisse? " über Rudolf Höss, Kommandant von Auschwitz - von Manfred eselaers

2018

  • "Juden und Christen - 2000 Jahre tragische Geschichte" (Bullinger u. Klaiber) 
  • "Die Pentagon-Papiere" (rund um den Vietnam-Krieg) von Neil Sheehan
  • Wolf Biermann: "Warte nicht auf bessre Zeiten" und Bassam Tibi: "Islamische Zuwanderung und ihre Folgen"
  • "Götzen - die Autobiografie von Adolf Eichmann" - von Raphael Ben Nescher kommentiert, und Biografien über Kurt Gehrstein
  • Irvin D. Yalom: "Wie man wird, was man ist."

 

2017

  • Alfred Bodenheimer - vier Krimis
  • Ayelet Gundar-Goshen: "Löwen wecken"
  • Deborah Feldmann: "unorthodox" und "verbitten"
  • "Islamistische Drehscheibe Schweiz" von Saida Keller-Messahli und Robert Seethalers "Ein ganzes Leben".
  • "I'm Your Man - das Leben des Leonard Cohen" von Sylvie Simmons, und Leonard Cohens "Beautiful Losers"
  • "Sweet Occupation" von Lizzi Doron
  • "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel
  • und "Der Abituriententag" von Franz Werfel
  • 23. Mai 2017: "Der Koran" von Hamed Abdel-Samad
  • 16. Mai 2017: "Cordoba" (von Waltraut Lewin, 2016)
  • 5. April 2017: Vorpremiere von "Staatenlos - Klaus Rozsa, Fotograf"  
  • "Und was hat das mit mir zu tun?", von Sacha Batthyany
  • "The Clash of Civilisations" von Samuel P. Huntington und Michel Houellebecq:  "Die Unterwerfung" 
  • Rückblick auf einige gelesene Bücher 
  • "Mir selber seltsam fremd" von Willy Peter Reese (Russland 1941-44) 
  • "Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten", von Saul Friedländer 

2016 

  • Buchbesprechungen: "Not in God's Name" (Jonathan Sacks) und "Start-Up Nation" (Dan Senor + Saul Singer). 
  • Der Film: "Brooklyn, eine Liebe zwischen zwei Welten" 
  • Shlomo Sand: "Die Erfindung des jüdischen Volkes" 
  • "Der Aleppo Codex",  
  • "Schweizer Terror-Jahre"  

2015 

  • "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" von Oliver Sacks. 
  • "Allein unter Juden" von Tuvia Tenenbom 
  • Der Film "Mita tova" (engl. A Farewell Party)  
  • "Heilung oder Hindernis" - Religion bei Freud, Adler, Fromm, Jung und Frankl - . von Christoph Kolbe 
  • "Nicht irgendein anonymer Verein..." - eine Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Hrsg. Alfred Bodenheimer 
  • "Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher" - Yad Washem 
  • "Eichmann and the Holocaust", Hannah Arendt

 

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 Hier folgen die detaillierten Buchbeschreibungen!

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2021

Ende Oktober 2021

Bei meinem Bücherlesen gibt es immer eine Mischung zwischen "Fachliteratur" und Belletristik. Im Moment vertiefe ich mich gerade in Steven Pinkers "Gewalt", einer tiefschürfenden Arbeit über das, was man "menschliche Gewaltentwicklung" nennen kann. Das ist ein Werk von mehr als 1000 Seiten, die alles andere als leicht verständlich ist. Ich jedenfalls muss gewisse Kapitel jeweils mehr als einmal durchlesen und zu verstehen versuchen, was wirklich gemeint ist. Steven Pinker führt in seiner Publikation aus, dass "Die Gewalt" im Laufe der Jahrhunderte massiv abgenommen hat. Wir leben heute in einer Welt, in der die Gewalt zwischen Menschen massiv weniger Ausmasse annimmt, also wesentlich friedlicher ist, als das noch in den vergangenen Generationen der Fall war. Das ist nicht so leicht nachzuvollziehen! Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ich diese 1000 Seite durchgearbeitet habe, darauf zurückkommen. 

Neben solchen Büchern, die "happig" sind, die ich aber als enorm wichtig zur allgemeinen Meinungsbildung betrachte, möchte ich mich gleichzeitig auch ein wenig literarisch erholen, indem ich leichtere, belletristische Bücher zu Gemüte führe. 

Ein Buch der israelischen Autorin Ayelet Gundar-Goshen habe ich gerade hinter mir: 

WO DER WOLF LAUERT ... Ayelet Gundar Goshen

Der Titel tönt eher etwas verwirrend. Der Inhalt von Gundar-Goshens Buch ist für mich jedenfalls extrem faszinierend. Die Geschichte einer israelischen Familie, die im Silicon Valley lebt und viel mit amerikanischem Antisemitismus zu tun hat, ist aussergewöhnlich und zudem von Gundar-Goshen ganz extrem faszinierend, sensibel beschrieben. 

Um was geht es hier: 

(AMAZON Buchbeschreibung kurz und bündig): "Lilach Schuster hat alles: ein Haus mit Pool im Herzen des Silicon Valley, einen erfolgreichen Ehemann und das Gefühl, angekommen zu sein in einem Land, in dem man sich nicht in ständiger Gefahr wähnen muss wie in ihrer Heimat Israel. Doch dann stirbt auf einer Party ein Mitschüler ihres Sohnes Adam. Je mehr Lilach über die Umstände des Todes erfährt, desto größer wird ihr Unbehagen: Ist es möglich, dass Adam irgendwie damit in Verbindung steht?"

Und weitere Stimmen (aus dem Internet): 

"Ein psychologisch raffinierter Roman über die langen Schatten unserer Herkunft und darüber, dass uns oft die Menschen das größte Rätsel bleiben, die wir am besten zu kennen glauben: unsere Kinder."

Und die Kulturzeitschrift "Der Perlentaucher" meint dazu: 

KLAPPENTEXT

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Lilach Schuster hat alles: ein Haus mit Pool im Herzen des Silicon Valley, einen erfolgreichen Ehemann und das Gefühl, angekommen zu sein in einem Land, in dem man sich nicht in ständiger Gefahr wähnen muss wie in ihrer Heimat Israel. Doch dann stirbt auf einer Party ein Mitschüler ihres Sohnes Adam. Je mehr Lilach über die Umstände des Todes erfährt, desto größer wird ihr Unbehagen: Ist es möglich, dass Adam irgendwie damit in Verbindung steht?

07.08.2021

Rezensentin Christiane Pöhlmann ist begeistert von Ayelet Gundar-Goshens Roman. Die Vielschichtigkeit des Textes um einen behüteten jüdischen Teenager und den rätselhaften Tod eines schwarzen Mitschülers erstaunt sie. Mehr als ein Thriller um Antisemitismus und Rassismus, mehr als die Geschichte einer Mutter-Sohn-Beziehung ist der Roman für sie durch die Fragen über stereotype Wahrnehmungen, Opfer- und Täterzuschreibungen, die er aufwirft. Dass die Autorin dem Leser damit einiges zutraut und ihn auch für mündig genug hält, zwischen Autorin und Figurenmeinung zu unterscheiden, gefällt Pöhlmann gut.

Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

15.07.2021

Ein toller Wirtschaftsspionage-Krimi, ruft Rezensentin Sigrid Brinkmann. Autorin Ayelet Gundar-Goshens erzähle kühl und dennoch "ungemein feinfühlig" von einer jüdischen Familie im Silicon-Valley, deren Sohn in eine Gruppe hineingezogen wird, die Nahkampftraining für israelische Jugendlicher durch einen gescheiterten Brigadegeneral anbietet. Während der Mutter das ganze nicht geheuer ist, ist der Vater, der Software für Waffen entwickelt, begeistert, lesen wir. Ein berührendes "Eltern-Kind-Drama", das bis zum Schluss spannend bleibt, urteilt Brinkmann zufrieden.

Und wie ist es mir beim Lesen dieses neuesten Buches von Ayelet Gundar-Goshen ergangen? 

Spannung total! Ich hatte Mühe, das Lesen jeweils zu unterbrechen. Dieses Buch hätte ich, wenn es möglich gewesen wäre, "voll, ohne Unterbruch, durchgelesen!" Der Stil von Gundar-Goshen spricht mich enorm an und erzeugte bei mir jeweils fast "voyeuristische Gefühle"! Die Menschen, die hier zusammenprallen mit all ihren menschlichen Fazetten gaben mir das Gefühl, sie bereits schon (vor dem Lesen dieses Romans) zu kennen aber sie immer wieder neu in ihrem Verhalten, ihren Gefühlen und ihren Reaktionen zu beobachten! Inhaltlich machten meine Gefühle eine Berg- und Talbahn und bestätigten einmal mehr, wie latent existierend, aber auch wie brutal im direkten Ausleben antisemitische Regungen überall, weltweit, existieren und uns Juden das Leben schwer machen. 

Ich kann nur empfehlen, dieses neueste Buch von Ayelet Gundar-Goshen zu lesen und "zu erleben"! 

Ende September 2021

In den vergangenen Wochen habe ich einige Bücher verschlungen, die mich so richtig in Bann zogen und die ich hier kurz vorstellen möchte: 

Schmerz von Zeruya Shalev

Die israelische Autorin Zeruya Shalev berührt mich mit ihren Romanen ganz besonders. Ihr Buch "Ke'ev" (Schmerz) kam 2015 in Israel heraus und wurde viel beachtet. Amos Oz, ebenfalls ein berühmter israelischer Autor schrieb über Zeruya Shalevs  Buch folgendes:

"Als Iris auf Eitan trifft, glaubt sie, alles hinter sich lassen zu können: die Schmerzen, ihr festgefahrenes Leben, den soliden, aber harmlosen Ehemann. Doch kann die Liebe alte Wunden heilen? Kann man noch einmal von vorn anfangen? Ein berauschender, ein aufrüttelnder Roman über die Liebe, über Wunden und Wunder."

Bereits in ihrem Buch "Schicksal" schreibt Zeruya Shalev wirklich ehrlich über alle Fazetten der Liebe, alle möglichen Hochs und Tiefs. Und sie tut es - so empfinde ich - so liebevoll wie etwas! 

Um was geht es in diesem Buch (Amazon Buchbesprechung): 

"Vor zehn Jahren ist Iris bei einem Anschlag schwer verletzt worden. Zwar ist sie in ihr altes Leben zurückgekehrt, doch quälen sie Tag für Tag Schmerzen. Als sie Eitan wiederbegegnet, der Liebe ihrer Jugend, der sie vor Jahren abrupt verlassen hat, wirft sie das völlig aus der Bahn. Die Wunde, die er ihr zufügte, ist nicht weniger tief als die, die der Selbstmordattentäter, der sich neben ihr in die Luft sprengte, riss. Und doch fühlt sich Iris jäh, voller Staunen, erneut zu ihm hingezogen. Wie in »Liebesleben« lotet Shalev die Untiefen der Liebe, die Fährnisse einer fatalen Anziehung aus. Die erotische Spannung, die Wucht der unerwartet wieder aufflammenden Leidenschaft sind kompromisslos, ehrlich und tief bewegend erzählt. »Schmerz« ist ihr persönlichstes Buch, eine emotionale Grenzerfahrung."

Das Kulturmagazin "Perlentaucher" zitiert einige weitere Rezensionen, die ich gerne einspiele: 

KLAPPENTEXT

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Vor zehn Jahren ist Iris bei einem Terroranschlag schwer verletzt worden. Zwar ist sie in ihr altes Leben zurückgekehrt, sie leitet eine Schule, ihr Mann steht ihr treu zur Seite, die Kinder sind fast erwachsen, doch quälen sie Tag für Tag Schmerzen. Als sie Eitan wiederbegegnet, der Liebe ihrer Jugend, der sie vor Jahren jäh verlassen hat, wirft sie das völlig aus der Bahn. Die Wunde, die er ihr damals zufügte, ist nicht weniger tief als die, die der Selbstmordattentäter, der sich neben ihr in die Luft sprengte, riss. Und doch fühlt sich Iris, zaghaft, überrascht, erneut zu ihm hingezogen, ist versucht, ihrer Ehe zu entfliehen, die ersten Lügen zu stricken, alles aufs Spiel zu setzen.

24.10.2015

Keinen Hehl macht Rezensent René Hamann, hauptberuflich Meinungsredakteur der taz, daraus, mit Shalevs Stil wenig anfangen zu können. Auch "Schmerz" sagt ihm, gelinde gesagt, nicht zu, was auch daran liegen mag, dass die Autorin sich darin vor dem Hintergrund eines Selbstmordattentats in Israel mit Fragen der Liebe und der persönlichen Lebensführung befasst und jeden Kommentar zur Lage im Nahen Osten vermeidet. Auch reibt sich der Rezensent daran, wie kleinfaserig Shalev ihr Sujet erzählerisch zerteilt und dabei stilistisch "gewöhnungsbedürftig" bleibe. Den Fans der Autorin, die deren Bücher in den Stand junger Klassiker emotionaler Literatur gehoben hätten, kann der Kritiker das Buch reinen Herzens empfehlen. Ihn hat es mit seinen "Satzgirlanden" und "selbstverliebten Redundanzen" eher gelangweilt.

14.10.2015

Rezensentin Katharina Teutsch ist hin- und hergerissen von Zeruya Shalevs neuem Roman. Das Thema Schmerz behandelt die Autorin in ihrer in Israel angesiedelten Familiengeschichte mit deutlichem Schlag ins Sentimentale, wenngleich ohne Larmoyanz. Liebesschmerz, Lebensschmerz, körperlicher Schmerz, dekliniert Teutsch gemeinsam mit der Protagonistin und möchte das Buch aus der Hand legen, wenn die Figur, eine gestandene Mutter und Schulleiterin, angesichts einer wiederauftauchenden alten Liebe ihre Ehe in Zweifel zieht. Doch dann überrascht die Autorin die Rezensentin, indem sie eben nicht dem Kitsch der Passion anheimfällt, sondern der Geschichte durch eine andere Konfliktlage neuen Drive gibt und die Mechanismen der Ehe subtil schildert.

Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

13.10.2015

"Schmerz" ist seit "Liebesleben" der beste Roman Zeruya Shalevs, versichert Rezensentin Meike Fessmann, die die israelische Autorin ohnehin für ihre furiose Intensität und ihr außergewöhnliches Pathos bewundert. Sie folgt hier der Familienmutter Iris, die zehn Jahre nach einem Bombenattentat in Jerusalem nicht nur plötzlich wieder die damals erlebten Schmerzen spürt, sondern in der Schmerzambulanz ihrer großen Liebe wiederbegegnet. Die Kritikerin meint geradezu den Zorn, das Verlangen und die Schuldgefühle der Protagonistin zu spüren, so eindringlich schildert Shalev das Bewusstsein der Heldin. Darüber hinaus sieht Fessmann hier große Themen verarbeitet wie die Glorifizierung der Mutterschaft, das Generationenverhältnis, die Angst vor Anschlägen und die Militärzeit der Söhne als Hintergrundrauschen dieses Romans, der der begeisterte Rezensentin nicht zuletzt die Konfrontation zwischen neuen Liebes- und Lebensmodellen und traditionellen Werten in der israelischen Gesellschaft vor Augen führte.

Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

19.09.2015

Elmar Krekeler ahnt die Wahrheit hinter den Geschichten von Zeruya Shalev: Dass er auch so ist oder wird wie ihre Figuren, dass er die gleichen Seelenqualen kennt. An Shalevs Fähigkeit, die Untiefen der Familie und der Paarbeziehung auszuloten, hat er keinen Zweifel. Ebenso wenig an der Treffsicherheit ihres Tons. Wenn die Autorin nun eine Paarbeziehung um das traumatische Schmerzerlebnis eines Selbstmordanschlags herum gruppiert, scheint Krekeler dieses Zentrum fast zu mächtig für die eher kleine Beziehungsgeschichte. Doch die Präzision der Erzählung zieht den Rezensenten letztlich in den Text hinein und lässt ihn schärfer sehend daraus hervorgehen.

10.09.2015

In ihrem neuen Roman "Schmerz" ist Zeruya Shalev in Liebesdingen ein wenig pragmatischer und reifer geworden, nachdem sie in ihren früheren Büchern sämtliche Extreme des Gefühls durchlaufen hatte, erzählt Rezensentin Iris Radisch anlässlich eines Besuchs bei der Autorin in Israel. Elemente im Leben der sechsundfünfzigjährigen Autorin sind hier Fiktion geworden, erklärt sie weiter: ein Anschlag auf die Residenz des Ministerpräsidenten 2004, bei dem Shalev verletzt wurde, Geschichten ihrer Eltern von der verlorenen großen Liebe und ihr Leben in Israel, zählt Radisch auf. Was aus früheren Werken erhalten geblieben ist, sind die biblischen Bezüge, die Shalevs Bücher seit jeher in einer mythisch-religiösen Tradition verankert haben, sowie ihr  Einfühlungsvermögen in die weibliche Seele, erklärt die Rezensentin, deren lobender Artikel insgesamt alle Bücher Shalevs umfasst.

Bücherbrief vom 04.11.2015

Diesen Rezensionen möchte ich nichts Weiteres hinzufügen. Ich empfehle schlicht und einfach, dieses wunderbare Buch von Zeryua Shalev zu lesen! Mich hat es zutiefst berührt, aufgerührt auch, und betroffen gemacht! 

 

Und ein weiteres Buch, auch von einer bekannten israelischen Autorin verfasst, hat mir grosse Freude beim Lesen gemacht: 

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Die hebräische Ausgabe, erschien im Jahr 2014 unter dem Titel "Gader Chaija/Borderline", und war ebenfalls in Israel ein Bestseller. Auch hier geht es um eine (eher tragische) Liebesgeschichte, die  sehr viel mit der Palästina-Tragödie zwischen Israelis und Palästinenser zu tun hat. 

Amazon beschreibt den Inhalt wie folgt - kurz und bündig: 

Die Israelin Liat lernt in New York den Palästinenser Chilmi kennen. Die beiden verlieben sich, wohl wissend, dass ihre Liebe keine Zukunft hat: Wenn die Zeit in New York vorbei ist, wird auch die Beziehung, die eigentlich nicht sein darf, zu Ende gehen. Doch Liat und Chilmi haben die Rechnung ohne ihre Gefühle gemacht.

Liat und Chilmi haben die Rechnung in der Tat ohne ihre Gefühle gemacht! Und ihre Gefühle machen eine Berg- und Talfahrt aus. Diese Liebe sollte es eigentlich nicht geben und eine Zukunft der beiden war alles andere als "möglich", fast so, wie eine friedliche Lösung des Palästinakonflikts. Das Ende dieser Liebesgeschichte, vor allem das Schîcksal Chilmis, ist nicht nur tragisch, es ist herzzerreissend!

Ich empfehle auch hier die Rezensionen vom Kulturmagain "Perlentaucher" zu lesen:  

KLAPPENTEXT

Aus dem Hebräischen von Helene Seidler. In der Heimat hätten sie sich nie kennengelernt, aber durch einen Zufall treffen die Tel Aviverin Liat und der Maler Chilmi aus Ramallah in New York aufeinander und verlieben sich. Liat kämpft mit sich, denn weder ihre Eltern noch ihre jüdischen New Yorker Freunde dürfen von der Beziehung erfahren, die ein klares Enddatum hat: Wenn Liat zurück nach Israel geht, ist Schluss. Doch Gefühle lassen sich nicht einfach abstellen, und die Herkunft der beiden sowie die Perspektivlosigkeit belasten ihre Gegenwart - eine Zukunft scheint unmöglich. Gibt es einen Ausweg, oder ist das private Glück vor dem Hintergrund des Konflikts der beiden Völker unmöglich? Ein Roman, der mit großer Wucht und in einer bildreichen, emotionalen Sprache von einer unmöglichen Liebe erzählt. Das Buch wurde vom israelischen Erziehungsminister von der Lektüreliste der Oberstufe gestrichen, was auch in Deutschland ein starkes Presseecho hervorrief.

Info

Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer - Auszug bei Kiepenheuer & Witsch.

31.12.2016

Dorit Rabinyans neuer Roman "Wir sehen uns am Meer" wurde vom israelischen Schulministerium als Bedrohung für die "getrennten Identitäten" von Juden und Arabern von der Lektüreliste für Gymnasien gestrichen, informiert Rezensentin Stefana Sabin und fügt hinzu: Auch jenseits des Skandals lohnt sich die Lektüre dieses Buches, in dem die israelische Autorin erstmals ganz auf fantastische Elemente verzichtet. Indem Rabinyan ihre Liebesgeschichte um Liat, eine israelische Schriftstellerin, die eine realpolitische Kompromissposition vertritt, und den Künstler Chilmi, der von einem binationalen Staat träumt, nicht nur mit zahlreichen, differenzierten Streitgesprächen über den Nahost-Konflikt anreichert, sondern die Beziehung schließlich auch an der Realität zerbrechen lässt, zeichne die Autorin ein geradezu "naturalistisches" Bild des Verhältnisses zwischen Israelis und Arabern, lobt die Kritikerin. Ein herrlich unsentimentaler Roman, der Gespür für Nuancen beweist, schließt Sabin.

03.09.2016

Den Entschluss des israelischen Bildungsministeriums, Dorit Rabinyans neuen Roman als Skandal zu brandmarken und verbieten zu lassen, kann Katharina Granzin nicht nachvollziehen. Immerhin scheitert die Liebesgeschichte um den arabischen Künstler Chilmi und die israelische Studentin Liat gerade an Liats Patriotismus, der ihr keine andere Möglichkeit lässt, als nach Israel zurückzukehren und mit einem jüdischen Mann eine Familie zu gründen. Die Kritikerin kann diese solide geschriebene, mit differenzierter Figurengestaltung und expliziten Sexszenen aufwartende "Romeo und Julia in der Diaspora"-Geschichte aber in jedem Fall empfehlen.

13.08.2016

Dorit Rabinyans dritter Roman "Wir sehen uns am Meer", der die Liebesgeschichte zwischen der Israelin Liat und Chilmi , dem Palästinenser,  erzählt, hat in Israel für einen Skandal gesorgt, informiert Rezensent Peter Münch, der sich mit der Autorin zum Gespräch getroffen hat. Das Verbot des Buches, das laut israelischer Regierung die "getrennten Identitäten von Juden und Nicht-Juden" gefährde, hat sicher zum großen Erfolg des Romans, der bereits in 18 Sprachen übersetzt wurde, beigetragen, fährt der Kritiker fort. Wie Rabinyan ihre beiden Protagonisten vor dem Hintergrund des 11. Septembers in New York zueinander finden lässt, über politische Konflikte und die Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung streiten lässt und als "temporäres Abenteuer" zweier Liebender schildert, die an der politischen Realität scheitern, scheint dem Rezensenten gefallen zu haben. Leider hält sich Münch mit einem eigenen Urteil bedeckt, beruft sich lieber auf die Aussagen der Autorin über ihren Roman.

Ich denke, dass man dieses Buch von Dorit Rabinyan lesen muss! Ich hatte beim Lesen jeweils das Gefühl direkt betroffen, involviert zu sein. Die Gefühle dieser beiden Liebenden machten in der Tat eine Berg- und Talfahrt - meine auch! Das Ende dieser Liebensgeschichte ist - so scheint es mir - allerdings eine Tragödie. Chilmi ertrinkt am Strand von Jaffa, kurz, bevor er sich wieder mit Liat treffen kann! Dieses Ende ist brutal und tut weh! 

Und nun komme ich noch zu einem dritten Buch, das ich soeben gelesen habe. Auch hier geht es um eine Liebesgeschichte, allerdings einer Liebesgeschichte der besonderen Art: 

Besetzte Gebiete

Ich habe von Arnon Grünberg vor einiger Zeit "Den jüdischen Messias" gelesen, ein Buch, das nicht nach meinem Geschmack ist. Ich wollte (von meiner Seite) Arnon Grünberg noch eine Chance geben und nahm sein neuestes Buch in Angriff.

Es ist mir bekannt, dass der Autor Arnon Grünberg v.a. in Holland als "genial" gilt, seine Bücher als Bestseller verkauft werden. Das NRC Handelsblad sagt sogar: "Grünberg ist (mit diesem neuesten Buch) auf dem Gipfel seines Könnens". 

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Renies Lesetagebuchs

Renies Lesetagebuch

....nicht nur Gegenwartsliteratur...

Der niederländische Autor Arnon Grünberg tummelt sich in den unterschiedlichsten literarischen Gattungen. Er schreibt Romane, Reportagen, Essays, Gedichte, Filmskripte. Für viele seiner Werke ist er in seiner Heimat ausgezeichnet worden. Ich bin gespannt, wie sein aktueller Roman „Besetzte Gebiete“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Denn dieser Roman ist mutig, unbequem und vor allen Dingen schräg, wenn nicht sogar grotesk. Grünberg nimmt sich darin eines sehr sensiblen Themas an, bei dem die meisten Menschen der Nachkriegszeit sich in Zurückhaltung üben würden, aus Angst, dass ihnen die Political Correctness abgesprochen würde.

In "Besetzte Gebiete" geht es vordergründig um das Judentum und das Jüdischsein sowie die unterschiedlichen Standpunkte zu diesen Themen. Jeder, der sich öffentlich zu diesen Themen äußert, begibt sich auf dünnes Eis. Denn schnell wird man in die Nähe des Antisemitismus geschubst, sobald man nur den Verdacht einer Kritik am Judentum und dessen Auslegung äußert. Doch Grünberg scheint davor nicht bange zu sein, denn in seinem aktuellen Roman nimmt er das moderne Judentum auf brachiale Weise aufs Korn.

Der Titel dieses Romans ist Programm. „Besetzte Gebiete“ – darunter versteht man in Israel das Westjordanland, in dem jüdische Siedler Land annektiert und sich dort niedergelassen haben – sehr zum Unwillen der Palästinenser, die das Westjordanland als ihr Eigentum ansehen. Vor lauter UN-Beschlüssen, die über die Jahre getroffen und wieder aufgehoben wurden sowie diversen Anektionen blickt man nicht mehr durch. Fakt ist: Jede Partei fühlt sich im Recht und beansprucht das Westjordanland für sich. Hinzu kommt auf israelischer Seite noch die vermeintlich religiöse Legitimation. Denn Palästina gehört zu demjenigen Land, das Gott den Juden verheißen hat (nachzulesen in der Hebräischen Bibel).

Inmitten dieser schwierigen Verhältnisse landet ein niederländischer Psychotherapeut: Kadoke, jüdisch, wenn auch nur auf dem Papier. Kadoke ist der Protagonist dieses Romans, begleitet wird er von seinem senilen und gebrechlichen Vater.

Doch zunächst blicken wir zu Beginn des Romans auf die Zeit, vor Kadokes Ankunft im Gelobte Land. Wir erfahren, dass Kadoke in Amsterdam zuhause war und hier seine Zulassung als Psychiater verloren hat. Seine "alternativen Therapiemethoden" sorgten für einen Skandal. Die Folge für unseren Protagonisten: der Job ist weg, der Ruf ist ruiniert, er wird zum Opfer der Medien und zieht den Zorn der Öffentlichkeit auf sich. Seine alternativen Therapiemethoden bewirken also, dass er eine Alternative für sein bisheriges Leben benötigt. Und diese Alternative sieht er in Israel, wobei die Liebe ihm bei dieser Entscheidung geholfen hat.

Kadoke wandert also ins gelobte Land aus. Anat, die Frau, für die sein Herz schlägt, ist eine entfernte Verwandte, die ihn zufällig in Amsterdam besucht hat, und in die er sich scheinbar verguckt hat. Sie lebt in einem Kibbuz inmitten des Westjordanlandes. Hier tobt der Konflikt zwischen jüdischen und arabischen Siedlern, in dem es um die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Besiedlung des arabischen Landes durch jüdische Siedler geht. Anat ist eine, fast schon fanatische Verfechterin der jüdischen Argumentation. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Hier will nun Kadoke leben, der aus Amsterdam andere Wohn- und klimatische Verhältnisse gewohnt ist. Er versucht also, sich ein neues Leben aufzubauen, was sich als schwierig gestaltet. Denn das Leben mit seiner Freundin, der Schwiegermutter in spe sowie der Kibbuzgemeinschaft ist nicht einfach für jemanden, der zum Einen andere Lebensumstände gewohnt ist und zum Anderen überzeugter Atheist und Anti-Zionist ist.

Arnon Grünberg hat mit "Besetzte Gebiete" einen aberwitzigen und schockierenden Roman geschrieben. Vieles in dieser Geschichte scheint an den Haaren herbeigezogen, ist aber dennoch zum Brüllen komisch. Menschliche Befindlichkeiten und Bedürfnisse prallen aufeinander, werden überspitzt dargestellt. Ich fühlte mich unweigerlich an die Filme von Monty Python erinnert, die sich mit ihrer Komik ständig an der Grenze zur Geschmacklosigkeit bewegt haben. Dieselbe Komik findet sich auch in diesem Roman wieder. 

Für mich ist "Besetzte Gebiete" eine groteske Satire. Doch hier kommt der Punkt, der mich durchgängig während der Lektüre dieses Romans beschäftigt hat: Was genau kritisiert Arnon Grünberg? Seine Kritik ausschließlich auf den Konflikt des Westjordanlandes zu begrenzen, erscheint im ersten Moment offensichtlich, hinterlässt jedoch Zweifel. 

Tatsächlich wäre ich nicht in der Lage, die Thematik dieses Romans in einem Satz zusammenzufassen . Allerdings könnte ich eine Riesen-Liste an Schlagwörtern erstellen, die mir während des Lesens eingefallen sind und bei denen ich jedes Mal gedacht habe: Stimmt ja, darum geht es auch.

Selbstverständlich würden die Wörter Judentum und Westjordanland ("Besetzte Gebiete") darauf stehen. Doch mir ist es zu wenig, diesen Roman darauf zu begrenzen. Ich sehe andere Aspekte. Um bei meiner Schlagwortliste zu bleiben: Standpunkte, Opfer/Täter, Selbstwahrnehmung, Gerechtigkeit, Moral, Doppelmoral, Glaube, Schubladendenken, Political Correctness, Leben und Lebenlassen ... und es gäbe noch vieles mehr, je länger ich darüber nachdenke.

Aber ich schaffe einfach nicht, diese Schlagwörter miteinander in Einklang zu bringen. Obwohl sie doch irgendwie zusammengehören, kriege ich die Aussage dieses Buches nicht auf den Punkt gebracht, was mich aber nicht stört. Stattdessen weiß ich, dass mich dieser Roman noch lange beschäftigen wird. Und ich mag Bücher, die mich nicht loslassen. Es gibt zuviele Bücher, die ich gelesen und für gut befunden habe. Nach ein paar Wochen hatte ich aber schon wieder vergessen, warum mir das Buch gefallen hatte. Bei diesem Buch wird mir das garantiert nicht passieren.

Fazit:

Eine verrückte Satire mit einem Humor, der sich an der Grenze zur Geschmacklosigkeit bewegt. So etwas muss man mögen, ich mag es. Die Kernaussage dieses Romans lässt sich kaum in Worte fassen, so dass dieser Roman mich noch lange beschäftigen wird. © Renie

Ich bin mit "Renie" einverstanden, dass es sich hier um eine verrückte Satire mit einem Humor handelt, der sich an der Grenze zur Geschmacklosigkeit" bewegt. In diesem 429 Seiten langen Roman sind diese "Geschmacklosigkeiten" aber derart krass, dass ich dieses Buch eher mit Mühe las. Das Schönste, eigentlich das Menschlichste in diesem Roman, fand ich in der (homosexuellen) Liebesbeziehung zwischen Otto Kadoke und seinem palästinensischen Liebhaber. Aber auch hier endete diese Liebesgeschichte grotesk mit Mord und Grausamkeit. Mein Fazit: dieses Buch empfehle ich nicht weiter! Ich fand es furchtbar! 

6. August 2021

In den vergangenen Wochen habe ich einige Bücher gelesen, die es wert sind, hier besprochen zu werden. Eines dieser Bücher ist die neueste Publikation von Zeruya Shalev: "Schicksal". Dieses Buch hat mich nicht nur "angesprochen", wie selten es ein Roman tut. Es hat mich bewegt, die Protagonisten, die hier von Zeruya Shalev vorgeführt werden, haben sogar bei mir persönlich vieles "ausgelöst".

Das Badener Tagblatt publizierte soeben ein Interview mit ihr, das ich hier aufführen möchte: 

Badener Tagblatt – 06. August 2021 Ausgaben-Nr. 180, Seite: 18 Kultu

«Es gab Zeiten, in denen ich Angst hatte, dass ein Fluch über diesem Land liegt» Die Bestsellerautorin Zeruya Shalev über Israels Geschichte, die Spaltung der Gesellschaft und ihre Hoffnungen auf die neue Regierung. Pierre Heumann, Tel Aviv 

Pierre Heumann ist Nahostkorrespondent der Weltwoche und schreibt auch für CH Media Die Bücher der preisgekrönten israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev sind in 27 Sprachen übersetzt worden. Jetzt hat die 62-jährige Autorin erstmals einen Roman geschrieben, in dem die israelische Politik und der Umgang mit der Geschichte des Landes eine zentrale Rolle spielen. Im Buch «Schicksal» thematisiert sie die Terrororganisation Lechi, die in der israelischen Literatur bisher totgeschwiegen wurde. Sie zeigt auch, wie die Erinnerung an die radikale Gruppe, die die britische Mandatsmacht mit Gewalt aus Palästina vertreiben wollte, bis heute Israels Gesellschaft polarisiert. Shalev zog vor fünf Jahren von Jerusalem nach Haifa, weil sie in einem spannungsfreieren Klima leben wollte. Im Gegensatz zu Jerusalem hat Haifa bis vor kurzem als Beispiel für eine entspannte Koexistenz zwischen der jüdischen und der palästinensischen Bevölkerung gegolten. Doch Mitte Mai kam es auch in Haifa, wie in vielen anderen israelischen Städten mit einer gemischt jüdisch-arabischen Bevölkerung, zu massiven Ausschreitungen.

 Ist die Zeit des Friedens in Haifa vorbei? 

Zeruya Shalev: Keineswegs. Wir unterscheiden nicht zwischen Juden und Arabern. Zudem vergessen wir schnell. Jetzt ist es fast wieder so wie vor dem Unruhe-Monat Mai. 

So schnell scheint man in Israel allerdings nicht zu vergessen. In Ihrem jüngsten Roman «Schicksal» spaltet die Last der Vergangenheit Familien. 

Wenn ich von «vergessen» spreche, meine ich nicht die ganz grossen Themen. In meinen Büchern vergisst niemand irgendetwas (lacht). Die Vergangenheit ist immer präsent. Trotzdem waren zwei Tage nach den Unruhen die Cafés in Haifa wieder voll. Diese Vitalität sorgt regelmässig dafür, dass wir schnell zur Routine zurück finden. 

In Israel gibt es auch innerhalb der jüdischen Mehrheit Konflikte. Der Bruch geht oft quer durch die Familien. Sagen Sie doch bitte: Was hält das Land zusammen, das aus so unterschiedlichen Geschichten besteht und in dem so viele Erinnerungen für Bitterkeit sorgen? 

Was uns zusammenhält, ist der existenzielle Instinkt, dass wir überleben wollen. Ein Song, der bei uns sehr populär ist und «Ich habe kein anderes Land» heisst, bringt dieses Gefühl sehr genau auf den Punkt. 

Ihr Roman enthält autobiografische Elemente. Ihr Vater war Mitglied der UntergrundOrganisation Lechi, die vor der Staatsgründung gegen die britische Mandatsmacht kämpfte. 

Auch wenn ich hier und da kleine Stücke einflechte, die etwas mit meinem Leben zu tun haben, ist es kein autobiografischer Roman. Aber es stimmt: Mein Vater war während zweier /3 Jahre bei der Lechi, und es waren, wie er zu sagen pflegte, seine aufregendsten in seinem ganzen Leben. Er erzählte unablässig davon. 

Sie konnten also beim Schreiben aus dem Vollen schöpfen? 

Leider nein. Das Problem ist, dass ich nicht zuhören wollte (lacht). Erst spät in meinem Leben begann ich mich für Lechi zu interessieren. Die rechts-radikale Terrorgruppe Lechi wurde im jungen Staat nach dem Abzug der Briten und der Unabhängigkeit Israels totgeschwiegen. In unserem Haus aber war die Lechi sehr wohl ein Thema. 

Wie kam das? 

Meine Mutter stammte aus einem Kibbuz, ihre Eltern gehörten zu den Gründern einer Genossenschaftssiedlung am See Genezareth im Norden des Landes. Da prallten zwei ideologische Welten aufeinander: Die Linke meiner Mutter und die radikal Rechte meines Vaters. Wenn sich mein Grossvater mütterlicherseits, der Kibbuznik, und mein Vater über die Geschichte stritten, konnte es auch schon mal laut werden. Der Streit führte immer wieder zu Spannungen innerhalb der Familie, was mich stets aufs Neue irritierte.

 Wann haben Sie den israelisch-palästinensischen Konflikt ein erstes Mal wahrgenommen? 

Nach 1967, als in den besetzten Gebieten die ersten Siedlungen errichtet wurden, fuhren wir zu den ehemaligen Kameraden meines Vaters aus den Lechi-Zeiten. Diese Ausflüge sind mir bis heute präsent. Ich mochte diese Lechi-Kämpfer nie besonders. Wie Spinner wirkten sie in meiner Kindheit auf mich, als sie meinen Vater besuchten. Sie taten immer so aufgeregt und vertraten lautstark ihre radikale Ansichten. 

Kritiker haben an der deutschen Übersetzung bemängelt, dass im Glossar unter «Lechi» Wesentliches verschwiegen wird. Es werde nicht erwähnt, dass die Terrorbande 1940 eine Kooperation mit den Nazis geprüft hat, um gemeinsam gegen die Briten zu kämpfen. Als Gegenleistung hätten Juden aus dem von den Nazis besetzen Europa ins damalige Palästina übersiedeln dürfen. 

Die Protagonistin Rachel, die von 1944 bis 1945 bei der Lechi war, war zehn Jahre alt, als die Lechi mit den Nazis kooperieren wollte. In der Zeit, da Rachel aktiv war, war die angedachte Zusammenarbeit der Lechi mit den Nazis kein Thema mehr, und deshalb wird das im Glossar nicht erwähnt. Doch abgesehen davon frage ich mich: War es denn eine so schlechte Idee, mit dem Teufel zusammenspannen zu wollen, um in Europa den drohenden Massenmord der Juden zu verhindern und zu versuchen, Leben zu retten? 

Sie zeichnen ein desillusioniertes Bild von Israel. «Hier wird es kein normales Leben geben, wir haben umsonst gekämpft!», sagt ein Lechi-Kämpfer und beklagt, dass dieses Land verflucht sei: «Es ist ein Wüstland, und es verwüstet uns. Ein blutrünstiges, verlogenes, treuloses Land». Sind das Sätze, mit denen Sie sich identifizieren?

Es gibt tatsächlich Momente, in denen ich dieses Gefühl habe. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich Angst hatte, dass ein Fluch über diesem Land liegt. Nicht nur wir bringen Opfer für den Staat, sondern auch die andere Seite – noch ein Opfer und dann noch eines und so weiter. 

Wie stark ist dieses Gefühl heute bei Ihnen? 

Manchmal bricht es durch. Es ist eben die Kluft zwischen dem Anspruch des auserwählten Volkes, woran ich natürlich nicht glaube, und der Realität, die mitunter grausam ist. 

Macht Ihnen die neue Regierung unter dem Tandem Naftali Bennett und Yair Lapid Hoffnung, dass es besser wird? 

Die Regierung verfügt zwar nur über eine hauchdünne Mehrheit in der Knesset, aber sie ist aus verschiedenen politischen Strömungen zusammengesetzt. Fortan beherrschen nicht Ideologien die Politik. Die Koalition wird nach einem gemeinsamen Nenner suchen und trotz unterschiedlicher Weltanschauungen zusammen arbeiten müssen, um den Zusammenhalt zu stärken. Sie wird, anders als bisher, in der Politik wieder miteinander statt gegeneinander arbeiten müssen, um nicht abgewählt zu werden. Das ist, und darum geht es mir in meinem Roman, eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Zustandekommen einer nationalen Aussöhnung. 

Versöhnung findet in Ihrem Roman nicht statt. Die Figuren bleiben stur in ihren unterschiedlichen Welten leben: In einer fanatisch frommen, einer politisch radikalen oder einer traumatisierten Welt, aus der sie flüchten wollen. 

Man muss ja nicht miteinander einverstanden sein, um miteinander zu leben. Auch dieses Land kann eine Vielzahl verschiedener Meinungen akzeptieren, ohne dass man sich gegenseitig bekämpft. Ideologien sollten unser Leben nicht länger bestimmen. Deshalb bin ich vor einigen Jahren der Bewegung «Women Wage Peace» beigetreten. Wir suchen den Dialog mit Frauen – ob links oder rechts, ob Siedlerinnen oder Palästinenserinnen, Christinnen, Jüdinnen oder Muslima. Wir wollen betonen, was uns verbindet, und nicht, was uns trennt. Unser Ziel ist es, die Verantwortlichen auf beiden Seiten unter Druck zu setzen. In den Jahren des Schreibens war ich zwar nicht aktiv, besonders während der letzten zwei Jahre nicht. Manchmal ist das Schreiben eben zu anspruchsvoll und es ist unmöglich, sich anderen wichtigen Dingen zu widmen. Aber ich habe meine Kolleginnen bereits kontaktiert und ihnen mitgeteilt, dass ich zurück im Leben bin und wieder Zeit für Aktivitäten habe. 

Zeruya Shalev: «In Haifa unterscheiden wird nicht zwischen Juden und Arabern». 

Bild: Yannick Coupannec/Imago-Images «Wir wollen betonen, was uns verbindet, und nicht, was uns trennt.» Zeruya Shalev, 62 Israelische Bestsellerautorin.

Um was geht es in diesem neuesten Buch von Zeruya Shalev? Die Zusammenfassung von Amazon: 

Endlich – der neue Roman von Zeruya Shalev: Der SPIEGEL-Bestseller der israelischen Star-Autorin! 

Die Freundschaft zweier Frauen führt direkt in eine Katastrophe: „Schicksal“ ist ein Generationenroman mit aktuellen politischen Anklängen und ein großes Beispiel moderner Frauenliteratur. 

Israels Bestseller-Autorin Zeruya Shalev nimmt in jedem ihrer Romane Anlauf zu literarischen Höchstleistungen. Mit machtvollem Erzähltalent und intelligentem Gespür für große Themen verleiht sie ihren vielschichtigen Frauenfiguren eine Stimme, die weit über ihre eigentliche Geschichte hinausreicht. 

Ihr lang erwarteter Roman „Schicksal“ katapultierte Zeruya Shalev direkt auf die internationalen Bestsellerlisten und löste einen Kritikersturm der Begeisterung aus. Denn „Schicksal“ verwebt Familiengeheimnisse und das politische Zeitgeschehen zu einer komplexen Betrachtung innerer Zerrissenheit. 

Zeruya Shalev schickt ihre Protagonistin Atara auf eine Spurensuche, die ihre Fragen an ihr Leben mit distanziertem Ehemann und traumatisiertem Soldatensohn klären soll. Dafür wendet sich Atara ausgerechnet an die erste Frau ihres Vaters – und löst eine Kettenreaktion aus, die ihre Familie zu zerreißen droht. 

Schicksal, Kontrolle, Illusionen und Liebe – große Themen in einem großen Roman 

Wenn Zeruya Shalev über die Liebe als Triebfeder schreibt, hört die ganze Welt zu. Hinter ihrer Nahbetrachtung eines Schicksals steht stets eine kenntnisreiche Bestandsaufnahme israelischer Realität, die sich untrennbar an Generationen von Leben angeheftet hat. Damit wird Zeruya Shalev zu einer zwingenden Vertreterin engagierter Literatur, die weit über das Frauenbuch hinausreicht. 

Ein literarisches Geschenk für Mütter und Freundinnen, das lange nachhallt 

„Schicksal“ gehört zu den seltenen literarischen Perlen, für die Buchclubs aus der Taufe gehoben werden. Dieses Buch lädt zum Diskutieren und Reflektieren ein. Es provoziert Sie zum Widerspruch und zum Hinterfragen. Doch vor allem verführt es Sie zum Lesen in einem Rutsch. 

Dieses Buch verführt wirklich zum Lesen in einem Rutsch, das finde ich auch. Von Anfang an macht es auch neugiertig, wie die einzelnen Zusammenstösse weitergehen. Zeruya Shalev zeichnet nicht nur die Situationen, in der die Protagonisten stehen, auf eine lebhafte, farbige und auch eindrückliche Weise. Áber vor allem die Menschen, die hier durch die Seiten flattern, werden von Zeruya Shalev in allen Fazetten gezeichnet und hinterfragt. 

Man könnte stundenlang über den Inhalt dieses Buches diskutieren, Gedanken austauschen. Ich kann es einfach wärmstens empfehlen... Und gleich mache ich mich hinter die anderen Bücher, wie zB "Angst" von Zeruya Shalev, die ich  aus dem Bücherregal nehmen und wieder lesen will. 

Der weltberühmte Psychiater Viktor E. Frankl ist der Begründer der Dritten Wiener Schule der Psychotherapie - der Logotherapie. Seine über 30 Bücher sind in 24 Sprachen übersetzt worden. Für seine wissenschaftlichen Verdienste wurde er weltweit mit 27 Ehrendoktorate^n ausgezeichnet. 

20. April 2021 

Yishai Sarids Buch "Siegerin" habe ich kürzlich gelesen und unten kurz beschrieben. Dieses Buch, es war das erste von mir gelesene von Yisahi Sarid, hat mich veranlasst, oder besser: ermutigt, weitere Bücher von ihm zu lesen. Es gibt von ihm in deutscher Übersetzung noch deren drei. Zwei davon habe ich kürzlich gelesen, und dies mit grosser Freude. Seine in diesen zwei Romanen geäusserten Gedanken und auch zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen vom "Töten" haben mich zutiefst berührt. 

Zuerst zu: 

MONSTER, von Yishai Sarid

Die Originalausgabe auf Hebräisch unter dem Titel Mifletzet HaSikaron erschien in  Israel 2017. Die deutsche Ausgabe im Jahr 2019. 

Um was geht es hier: 

"Am Ende des Romans steht eine Eskalation: Ein israelischer tourguide streckt im Konzentrationslager von Treblinke einen deutsch Dokumentarfilmer mit einem Faustschlag neider. Wie kam es dazu? In einem Bericht an seinen ehemaligen Chef schildert der Mann, wie er jahrelang Schulklassen, Soldaten und Touristen durch NS-Gedenkstätten geführt hat und wie unterschiedlich diese mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen. Nach und nach zeigt sich, dass seine Arbeit nicht spurlos an dem jungen Familienvater vorübergeht - die Grauen der Geschichte entwickeln einen Sog, gegen den keine akademische Distanz ankommt. Gleichzeitig wächst sein Frust über die eigene familiäre und berufliche Situation. Am Ende wollen alle in erster Linie aus dem Holocaust - und dem Gedenken daran - einen Nutzen für sich selbst ziehen." 

Yishai Sarid schildert in diesem Roman schonungslos,  lebhaft, ungeschönt und sehr eindrücklich die  Gefühle des israelischen Tourguides, die Berg- und Talfahrten während der Zeit seiner Führungen durch die Orte des Grauens machen. Wenn man Sarids Buch "Siegerin" gelesen hat, dann ist man über die schonungslose Art seines Ausdruckes nicht erstaunt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nenn Yishai "einen Meister der Andeutungen". Ich würde weiter gehen: Sarid lässt es nicht bei "Andeutungen" sein, sondern kommt immer wieder ganz direkt zur Sache wenn es um Moral und Opferrollen geht. Nichts wird bei ihm beschönigt oder "angedeutet". 

Das Buch hat mich unerwartet konfrontiert mit harten Situationen von damals, als Hunderttausende von Unschuldigen an diesen Orten zu Tode kamen. Und beim Lesen erinnerte ich mich an meine eigenen Empfinden, als ich bei meinem Besuch in Auschwitz-Birkenau ebenfalls diese Orte des unermesslichen Schreckens und Leidens mit meinen Gefühlen erlebte. Dieses Buch hat mich aufgewühlt. Der Klappentext meint, dass...alle  in erster Linie aus dem Holocaust - und dem Gedenken daran - einen Nutzen für sich selbst ziehen wollten. Ich habe ein bisschen Mühe beim Verstehen dieser Aussage. Kann man einen "Nutzen" für sich selbst aus dem Holocaust ziehen? Ich denke jede Konfrontation mit diesem damaligen schrecklichen Geschehen, das so unzählige unschuldige Menschen über sich ergehen lassen mussten, sollte in erster Linie ein Gefühl "des Gedenkens", des Mitleidens an alle diese Unglücklichen auslösen. In der Folge sollte es aber natürlich dann weiter gehen und jeden einzelnen Menschen, der nun weiss, was dort geschehen ist, überall dort, wo er in der Lage, gegen jede Art von Unrecht aufstehen, dagegen ankämpfen und - wenn, wo und wie auch immer möglich - bei sich selber die dafür nötige Sensibilität entwickeln, dass man möglichst nie einem Mitmenschen etwas Böses antut. 

Das weitere Buch von Yishai Sarid: 

LIMASSOL von Yishai Sarid 

Hier beschäftigt sich Sarid auch wieder mit der Thematik "Töten", aber in einem ganz anderen Kontext. Mir scheint, dass für Sarid das Thema Töten ganz wichtig ist. Ist "Limassol" ein Politthriller, ein spannender Krimi oder was auch immer. Lassen wir einmal den vorderen Klappentext beschreiben, um was es hier in diesem Roman geht: 

"Ein auf Selbstmordattentate spezialisierter israelischer Geheimdienstler erhält einen ungewöhnlichen Auftrag: Über eine Schriftstellerin soll er Kontakt zu einem todkranken Dichter aus dem Gazastreifen herstellen, dessen Sohn des Terrorismus verdächtigt wird. Doch schon bald wird der Ermittler selbst in die Ereignisse hineingezogen, bis er schliesslich im zypriotischen Limassol vor der Entscheidung steht, seiner Pflicht ranczukommen oder gar den Schuldigenzu decken.. - Ein packender Roman, der inen in die Abgründe der zerrissenen israelischen Gesellschaft hinabstösst und wagt, die Frage nach Richtig und Falsch, Gut und Böse neu zu stellen."

Ein Geheimdienstler - ob in Israel oder anderswo - wird, wie ein Soldat in Kampfhandlungen -  immer wieder mit "Töten" konfrontiert. Wo fängt "Selbstverteidigung", "Schutz vor möglichen Terrorattentätern" an und muss präventiv "getötet" werden... Solche Entscheidungen sind fürchterlich. Hier werden solche Szenen präsentiert und jeder Leser list sie mit Schaudern. Vermutlich geht es den meisten bei solchen Schilderungen, solchen Konfrontationen, gleich: gottseidank nicht ich. 

Die Schilderungen sind in der Tat brilliant und wirklich spannend bis zur letzten Zeile. Aber durch den ganzen Roman zielt sich auch viel echt Menschliches, Liebes und macht dann das Lesen dieser nicht so schöngeistigen Geschichte erträglicher.

 

18. April 2021

Barack Obama galt (und gilt in gewissen Kreisen nach wie vor) sozusagen als "Sunnyboy" unter den amerikanischen Politikern. Auch ich finde ihn in der Galerie der Staatsmänner von heute als weltoffene, moderne Persönlichkeit in  der sonst eher älteren, muffigen und teilweise auch eher problematischen US Präsidenten-Runde. Die von mir  bereits gelesenen Biographien von ihm bestätigten das Bild eines intellektuellen, menschlichen und modernen Menschen.

Mit grossem Interesse stürzte ich mich nun kürzlich in die 750-seitige Originalausgabe seiner autobiographischen  politischen Rückschau. Seine Autobiographie "A Promised Land" ist im letzten Jahr herausgekommen, und ich habe mir gleich eine Ausgabe in der Originalsprache gesichert: 

A PROMISED LAND von Barack Obama

Die NZZ vom Samstag, 28. November 2020 inspirierte mich zum Lesen dieser seiner Autobiographie. Dieser Artikel in der NZZ von Birgit Schmid mit der Überschrift "Frauen anmachen mit Barack Obama" fokussiert sich auf Barack Obamas in jungen Jahren ausgelebten Versuche, sich bei Frau anzubiedern. Aus meiner Sicht ist dieser Artikel von Birgit Schmid ein Versuch, ihn als übergriffigen Mann zu illustrieren, "unterste Schublade", die ich sogar eher als primitive feministische Verleumdung einstufen würde. Barack Obama ist - nach allem was man wirklich von ihm weiss - alles andere als ein primitiver Macho. Jedenfalls nicht so einer, wie diese Autorin dies darstellt. 

Was schreibt AMAZON über dieses Buch: 

THE #1 SUNDAY TIMES BESTSELLER NAMED ONE OF THE BEST BOOKS OF THE YEAR BY The Times / Guardian / Telegraph / i News / The New York Times / Washington Post / NPR / Marie Claire

A riveting, deeply personal account of history in the making-from the president who inspired us to believe in the power of democracy

'Gorgeously written, humorous, compelling, life affirming' Justin Webb, Mail on Sunday

In the stirring, highly anticipated first volume of his presidential memoirs, Barack Obama tells the story of his improbable odyssey from young man searching for his identity to leader of the free world, describing in strikingly personal detail both his political education and the landmark moments of the first term of his historic presidency-a time of dramatic transformation and turmoil.

Obama takes readers on a compelling journey from his earliest political aspirations to the pivotal Iowa caucus victory that demonstrated the power of grassroots activism to the watershed night of November 4, 2008, when he was elected 44th president of the United States, becoming the first African American to hold the nation's highest office.

Reflecting on the presidency, he offers a unique and thoughtful exploration of both the awesome reach and the limits of presidential power, as well as singular insights into the dynamics of U.S. partisan politics and international diplomacy. Obama brings readers inside the Oval Office and the White House Situation Room, and to Moscow, Cairo, Beijing, and points beyond. We are privy to his thoughts as he assembles his cabinet, wrestles with a global financial crisis, takes the measure of Vladimir Putin, overcomes seemingly insurmountable odds to secure passage of the Affordable Care Act, clashes with generals about U.S. strategy in Afghanistan, tackles Wall Street reform, responds to the devastating Deepwater Horizon blowout, and authorizes Operation Neptune's Spear, which leads to the death of Osama bin Laden.

A Promised Land is extraordinarily intimate and introspective-the story of one man's bet with history, the faith of a community organizer tested on the world stage. Obama is candid about the balancing act of running for office as a Black American, bearing the expectations of a generation buoyed by messages of "hope and change," and meeting the moral challenges of high-stakes decision-making. He is frank about the forces that opposed him at home and abroad, open about how living in the White House affected his wife and daughters, and unafraid to reveal self-doubt and disappointment. Yet he never wavers from his belief that inside the great, ongoing American experiment, progress is always possible.

This beautifully written and powerful book captures Barack Obama's conviction that democracy is not a gift from on high but something founded on empathy and common understanding and built together, day by day.

'What is unexpected in A Promised Land is the former president's candour' David Olusoga, Observer 

Mit diesen Aussagen kann ich mich an und für sich identifieren. Obamas Buch ist aussergewöhnlich, zeigt vor allem seine ganz persönlichen und v.a. warmen Beziehungen zu seiner Familie, seiner Verwandtschaft. Dieses Buch zeigt ihn als wirklichen sympathischen Menschen, der trotz seiner riesigen politische Karriere auf dem Boden verblieb. Obama nimmt in seinen Ausführungen einerseits kein Blatt vor den Mund, wenn er auf Politiker wie zB  Putin zu sprechen kommt. Er nennt - wenn man so will - das "Kind" beim Namen! Putin ist in der Tat ein Despot, und dieser Meinung ist auch Obama! Bezüglich dem israelischen Premier Netanyahu zeigt er sich eher "zurückhaltend", obwohl allgemein bekannt ist, dass die beiden das Heu überhaupt nicht auf der gleichen Bühne hatten. 

Was für mich etwas bemühend und eher langweilig war, das sind die sehr detailierten und umfangreichen Schilderungen der inneramerikanischen Prozesse rund um die Wahlen um den Senatssitz und dann des Präsidentenamtes. Für einen US-Bürger mögen diese Informationen aber sicherlich von Interesse sein. 

Mich interessierte andererseits Barack Obamas Beziehungen zu der jüdischen US Bevölkerung. Mindestens 70% der jüdischen Amerikaner haben für ihn gestimmt und seine Politik auch mehr oder weniger unterstützt. Da höre ich von Seiten Obamas in seinen Ausführungen wenig Positives. Den AIPAC (die jüdische US-Organisation, die sich für Israel stark macht) zeichnet er eher negativ, obwohl diese Dachorganisation einige sehr Israel kritische Bewegungen einschliesst. Auch bezüglich Israels Situation in einer hochproblematischen, blutigen, aggressiven Weltgegend, zeichnet er  - jedenfalls aus meiner Sicht - zu einseitig zu Ungunsten Israels. Dass er nach seinem berühmten Kairo-Besuch und seiner sehr Islam freundlichen Ansprache an der Kairoer Universität sich sträubte, auch Israel einen Besuch abzustatten, ist für mich nicht nachvollziehbar. Er führt dann aus, dass er anstelle des Israelbesuches ein deutsches Konzentrationslager mit Eli Wiesel besucht hätte und damit sein Verständnis für die tragische jüdische Geschichte demonstrieren wollte. Mit dieser Argumentation habe nicht nur ich, sondern wohl die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft Mühe. Ich denke, dass Barack Obama gefühlsmässig die ganze und v.a. sehr heikle (Sicherheits-) Situation des jüdischen Staates nicht nachvollziehen wollte und konnte.

Barack Obama wird generell auch sehr heftig im Zusammenhang mit seiner US-Politik rund um den Syrienkrieg und den Auseinandersetzungen im Vorderen Orient kritisiert. În seiner Biographie versucht er, seine Position darzustellen und zu rechtferigen.  

Nichtdestotrotz finde ich Barack Obama eine starke und positive Persönlichkeit, die gerade in der heutigen Zeit vielen anderen Politikern in Sachen Menschlichkeit überlegen ist. Die Frage darf aber erlaubt sein, ob ein "guter US Staatsmann" nicht vor allem auch ein guter Stratege und Politiker auf allen Ebenen sein sollte, der weltweit die Vormachtstellung der US für friedliche und nachhaltige Prozesse nutzt. Ob dieses Prädikat auf Barack Obama zutrifft, wird die Zukunft und ein Rückblick auf seine Tätigkeit während seiner Amtszeit zeigen. 

"A Promised Land" ist aus meiner Sicht ein "must" zum Lesen. Um Obama einigermassen verstehen zu können, muss dieses Buch gelesen werden! 

6. April 2021

Ich habe soeben ein Buch eines israelischen Autors gelesen, das mich nicht nur extrem gefesselt, sondern richtiggehend aufgewühlt hat: 

Siegerin von Yishai Sarid  

In Israel wird viel "geschrieben"; es tauchen immer wieder ganz neue Autoren auf, die zu reden geben, deren Bücher kurz nach Erscheinen der hebräischen Erstausgabe in alle möglichen Sprachen übersetzt werden.  Aber es gibt nicht nur viele neue Autoren, die ihre Bücher publizieren. Es gibt vor allem viele SEHR GUTE Autoren.

Ein neues Buch von einem Author ist gerade erschienen, von dem ich noch nie etwas gehört habe und das ein hochaktuelles Thema beinhaltet: Yishai Sarids Siegerin (erschienen auf deutsch bei Kein & Aber, Zürich 2021). Es geht in diesem Roman um die Thematik des "Tötens" in Kampfhandlungen. Diese Thematik empfand ich als derart interessant und vor allem aufwühlend, dass ich das Buch gleich bei Amazon bestellt  und nach Erhalt sofort durchgelesen habe.

Um was geht es hier, ganz kurz zusammengefasst: 

(Amazon) Wie lernt man zu töten, ohne daran zu zerbrechen? Als Psychologin berät Abigail seit Jahren erfolgreich das israelische Militär, wie es Soldaten besser auf Einsätze vorbereitet. Doch dann wird ihr einziger Sohn Schauli einberufen, und sie muss sich entscheiden:Was wiegt schwerer, das Wohl ihres Landes oder das ihres Kindes? 

Im TACHLES las ich soeben ein Interview von Valerie Wendenburg mit dem Author Yishai Sarid (dem Sohn des ehemaligen linken israelischen Politikers, dem Meretz Vorsitzenden Sarid), das dieses neueste Buch von Sarid zum Inhalt hat: 

«Es ist eine israelische Tragödie»

Der israelische Autor Yishai Sarid legt in seinem neuen Buch «Siegerin» den Finger auf eine offene Wunde Israels.

In seinem neuen Roman «Siegerin» erzählt Yishai Sarid von der israelischen Armee, die das umkämpfte Land verteidigen muss – den Preis zahlen die jungen Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien. 

tachles: Abigail, die Protagonistin in Ihrem Buch «Siegerin», ist Expertin für die Psychologie des Tötens. Sie trainiert Soldatinnen und Soldaten, ihre Feinde ohne moralische Bedenken umzubringen. Ist dies aus Ihrer Sicht überhaupt möglich?

Yishai Sarid: Mir ist wichtig zu betonen, dass Abigail nicht fanatisch ist. Sie möchte erreichen, dass unsere Soldaten ihr feindliches Gegenüber töten – und nicht umgekehrt. Ich spreche natürlich nicht von Kriegsverbrechen oder dem Töten von Zivilsten. Aber wenn Soldaten ihren Feinden gegenüberstehen, sollte Moral eine untergeordnete Rolle spielen. Zahlreiche psychologische Studien zeigen, dass die meisten Menschen grosse Schwierigkeiten damit haben, andere Menschen zu töten, vor allem aus der Nähe. Dies scheint aber noch mehr am Instinkt zu liegen als an Moralvorstellungen. Abigails Aufgabe ist es, die Soldaten auf genau diese herausfordernde Situation vorzubereiten, die in Israel ja leider immer wieder Realität ist. 

Ist es für Israel eine Herausforderung, junge Menschen zu rekrutieren und für das Militär zu gewinnen?

In Israel ist es nach wie vor Usus, dass die jungen Leute in die Armee gehen, um das Land zu verteidigen. Dies ist selbst für Linke wie mich eine Selbstverständlichkeit. Meine Tochter ist zurzeit im Militär. Ich selbst habe sechs Jahre gedient, drei Jahre länger als es Pflicht ist. Die Jahre im Militär waren für mich sehr prägend und wichtig hinsichtlich meiner persönlichen Entwicklung. Ich war allerdings nie in einer Kampfeinheit, sondern im Nachrichtendienst. 

Heute steht Israel aber vor einem Problem: Die jungen Frauen und Männer sind erst 18 Jahre alt und in einer westlichen Welt aufgewachsen. Plötzlich wird von ihnen erwartet, im Ernstfall Menschen zu töten, und das ist für die meisten ein echtes Problem. Es ist nicht leicht, junge Menschen für den Nahkampf zu begeistern. Das Land hat hervorragende Technologien, Hightech-Kampfflugzeuge und erfolgreiche Rakentenabwehrsysteme. Aber wenn es darum geht, Menschen für den Kampf an vorderster Front zu finden, wie damals im Gaza- oder im Libanon-Krieg, so stösst das Militär an seine Grenzen.

Sind viele Menschen in Israel aufgrund ihrer Erfahrungen im Militär traumatisiert?

Ja, das ist ein Fakt. Es wurde nie wirklich darüber gesprochen, aber es gab eine Zeit, in der fast jeder Einwohner Israels irgendwie von den Kriegen betroffen war. Die Situation hat einen signifikanten psychologischen Einfluss auf alle Menschen. Nach den Einsätzen führen die Soldaten ihr Leben zwar meist fort wie bisher, auch wenn es einige Schwierigkeiten geben sollte. Aber eine beachtliche Anzahl von Menschen ist psychologisch oder emotional beeinträchtigt. 

Werden die Betroffenen auch von der Armee unterstützt, ihre Traumata zu verarbeiten?

Ja, sie werden schon behandelt, aber die Ressourcen sind auch begrenzt. Man kann nicht jedem helfen und manche Fälle sind schwerwiegend.

Die Tatsache, dass der Krieg und ein Kampfeinsatz so real sind, hat doch sicher einen grossen Einfluss auf die junge Generation?

Auf jeden Fall. Als ich im Jahr 1983 rekrutiert wurde, war es noch etwas unangenehm, nicht in eine Kampfeinheit zu gehen. Heute ist es anders, es ist viel mehr akzeptiert, seinen Militärdienst zum Beispiel im Nachrichtendienst zu absolvieren. Daher setzen sich viele Eltern natürlich dafür ein, ihre Kinder in Einheiten zu schicken, in denen diese sicherer sind, zumal sie dort ebenso bedeutsame Arbeit leisten können. Was zählt ist, dass sie weder getötet werden noch andere Menschen töten müssen. 

Was tut die Regierung, um wieder mehr Menschen für die Kampftruppen zu begeistern?

Es ist nicht nur ein militärisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Junge Menschen aus der höheren Gesellschaftsschicht gehen nicht mehr in die Kampfeinheiten, sie suchen sich andere Einsatzmöglichkeiten. Ausnahmen gibt es allerdings immer wieder für Ultraorthodoxe – und das ist eine Ungerechtigkeit. Hier handelt es sich um eine der grössten offenen Wunden innerhalb der israelischen Gesellschaft, denn wir fragen uns doch: Weshalb müssen unsere Kinder ins Militär einrücken und andere nicht? 

Zahlt Israel einen hohen Preis für seine Sicherheit?

Heute gehen rund 70 Prozent aller jungen Männer und 50 Prozent der jungen Frauen in die Armee. Sie verbringen dort zwei oder drei Jahre – die besten Jahre ihres jungen Lebens. Statt zu studieren, zu arbeiten oder zu reisen. Hinzu kommt das Risiko, kämpfen zu müssen, entführt oder sogar umgebracht zu werden. Natürlich zahlt Israel einen hohen Preis. 

Im Verlaufe des Romans muss auch Abigails Sohn Schauli ins Militär einrücken. Man hat den Eindruck, dass sie ihn immer mehr verliert. Warum?

Das stimmt. Ihr Sohn Schauli ist nicht schwach, aber sehr sensibel und kultiviert. Er geht nur für seine Mutter in eine Kampfeinheit, ohne sie hätte er sicher einen anderen Weg in der Armee für sich gesucht. Abigail lässt ihm keine andere Chance und er entfernt sich von ihr. 

Als er Probleme hat und während eines Einsatzes zusammenbricht, wird sie gerufen, kann ihm aber nicht helfen. Sie wirkt das erste Mal im Buch hilflos.

Abigail steht in dieser Szene für viele israelische Mütter und auch Väter. Sie schicken ihre Kinder aus Überzeugung ins Militär und verlieren von diesem Moment an die Kontrolle über sie. Die Eltern kooperieren und unterstützen die Armee, sie geben ihre Töchter und Söhne in ihre Hände. Von dem Moment an wissen sie nicht mehr, was mit ihren Kindern im Ernstfall geschieht. Dies ist ein grosser Konflikt. Schauli kann seine Mutter in seiner Not nur rufen lassen, da sie eine Persönlichkeit innerhalb des Militärs ist, aber selbst sie stösst an ihre Grenzen. 

Interessant ist auch die Rolle des Vaters von Schauli, der Generalstabschef und Vertrauter von Abigail ist. Sie denkt, niemand wüsste etwas über ihr gut gehütetes Geheimnis. Ist dies ein Trugschluss?

Abigail denkt an ihre gemeinsame Abmachung und geht davon aus, dass niemand weiss, wer Schaulis Vater ist, nicht einmal ihr Sohn selbst. Aber wir wissen ja aus dem echten Leben, dass Geheimnisse schneller bekannt werden, als man ahnt – dies ist aus meiner Sicht besonders in Israel der Fall. 

Im Buch gibt es eine junge Soldatin, die Hubschrauberpilotin Noga, die Menschen aus der Luft abschiesst.

Noga steht für eine neue Generation von Frauen in Israel und Abigail ist es deshalb extrem wichtig, dass Noga erfolgreich ist. Sie ist eine Feministin, die absolute Gleichberechtigung fordert, auch innerhalb der Armee. Das ist ein neues Phänomen in Israel, denn früher waren die jungen Frauen nicht unbedingt an vorderster Front, sie wurden anders eingesetzt. Heute möchten sie gleichberechtigt dabei sein, zum Beispiel in der Luftwaffe oder der Marine. Noga ist eine echte Kämpferin in einer Eliteeinheit, anders als Abigail, die ja eher im Hintergrund wirkt. Feministinnen wie Noga betonen heutzutage, Frauen könnten ebenso gut kämpfen und auch töten wie Männer. Die Armee ist in Israel von grosser Bedeutung und es ist genauso wichtig für Frauen wie für Männer, dort erfolgreich zu sein, wenn sie Karriere machen wollen. 

Wie kamen Sie auf das Thema des Romans?

Ich stehe politisch links, mein Vater war Vorsitzender der Partei Meretz. Man wundert sich immer wieder, wie ich mit meinem Hintergrund überhaupt dazu komme, einen Charakter wie Abigail zu beschreiben. Zuerst einmal aber handelt es sich um einen Roman und nicht um ein Buch über den Krieg, das ist mir sehr wichtig zu betonen. Abigail möchte ja auch keine Kriege führen, sie tut nur ihre Pflicht in ihrem Beruf, um den Soldatinnen und Soldaten zu helfen. Ich möchte mit meinem Buch die israelische Tragödie aufzeigen: Das Land muss Jahrzehnte nach seiner Gründung noch seinen Kriegsapparat am Laufen halten und Jahr für Jahr junge Menschen rekrutieren mit all den Risiken, die damit verbunden sind. Ihr Leben aufs Spiel setzen. Das ist ein Fakt, den ich wichtig finde, zu thematisieren. Und die Literatur ist für mich der einzige Ort, an dem ich diesen Gedanken Ausdruck verleihen kann. 

Wie wurde Ihr Buch in Israel besprochen?

Dies ist nicht so leicht zu beantworten. Zuerst einmal ist das Buch recht erfolgreich in dem Sinne, dass es eine hohe Auflage und eine grosse Aufmerksamkeit erreicht hat. Erstaunlicherweise wurde es aber sehr wenig politisch diskutiert. Vielmehr steht Abigails Charakter im Vordergrund des Interesses. Einige Leserinnen und Leser respektieren Abigail und schätzen ihre Stärke und auch ihr Pflichtbewusstsein. Andere mögen ihren Charakter gar nicht und kritisieren ihr Verhalten scharf – aus exakt den gleichen Gründen. 

Nächste Woche wird in Israel zum vierten Mal in zwei Jahren gewählt. Was wäre Ihr Wunsch für die israelische Politik?

Ich kann Ihnen ganz sicher sagen, dass meine Hoffnungen nicht erfüllt werden. Ich bin ein linker Zionist. Mein Traum ist ein friedliches Zusammenleben mit unseren Nachbarn, die Einhaltung der Menschenrechte und so weiter. Aber diese Ansicht ist in Israel zurzeit nicht so populär. Israel hat sich in den vergangenen Jahren politisch stark nach rechts bewegt. Der Grund ist das Scheitern des Osloer Friedensprozesses und die zweite Intifada. Der Mörder von Itzhak Rabin war jüdisch, aber hauptsächlich geht der Terrorismus von den Palästinensern aus. Israel war bereit, Kompromisse einzugehen und Territorium abzugeben. Ehud Barak stimmte zu, den Palästinensern Ost-jerusalem zurückzugeben. Die Antwort der Palästinenser war weiterer Terror. Diese Tatsache hat die israelische Linke getötet. Die Menschen in Israel haben kein Vertrauen mehr in die Palästinenser und daher gibt es für viele keine Alternative mehr zur rechten Politik. Obwohl die Wahlen in wenigen Tagen stattfinden, kann ich nicht abschätzen, wie sie ausgehen. Wenn ich raten müsste, dann tippe ich darauf, dass Netanyahu wieder Premierminister wird.

Können Sie sich eine stabile Regierung in Israel vorstellen?

Nur sehr schwer, denn das politische System ist sehr instabil. Genau so wie die israelische Gesellschaft ist auch die Politik aufgesplittert. Es gibt Religiöse und nicht Religiöse, Liberale und Konservative, es gibt Araber und Juden, Linke und Rechte. Viele kleine Parteien erschweren es, eine stabile Regierung zu bilden. Das politische System in Israel ist genauso so gespalten wie seine Gesellschaft. 

Yishai Sarid: Siegerin. Kein & Aber, Zürich 2021. - Valerie Wendenburg

Ich denke, dass das Interview von Valerie Wendenburg mit Yishai Sarid sehr schön darauf eingeht und umschreibt, welcher Hintergrund hier besteht und was der Autor mit diesem Buch aussagen möchte. Israel wurde - das ist eine Tatsache - seit Gründung im Jahr 1948 von den arabischen Nachbarstaaten (heute betrifft dies v.a. den Iran mit seinen Vasallen, und auch Syrien)   in seiner Existenz schwerstens bedroht. Die israelische Armee hatte durch all diese Jahre seiner Existenz bis heute immer wieder die klare Aufgabe der Verteidigung seiner Bürger. Das, was mit "Sicherheit" umschrieben werden kann, ist auch politisch das nach wie vor geltende Gebot der Stunde. 70 Prozent der männlichen Jugend (und 50% der weiblichen)  muss in die Armee eingezogen werden und verbringt dort mindestens 3 Jahre Wehrdienst. Tatsache ist auch, dass die ultra-orthodoxe Bevölkerung sich bis heute an diesen bürgerlichen Pflichten nicht beteiligt, sondern nur vom Staat auf extreme Weise zu profitieren versucht. - Die israelischen Soldaten geraten während der Grundausbildung, aber nicht weniger in den jährlichen Wehreinsätzen (und v.a. während den Verteidigungskriegen) immer wieder in Situationen der direkten Konfrontation mit dem Feind. Es muss "geschossen" und in Selbstverteidigung  "getötet" werden. Nach Untersuchungen weiss man, dass weltweit etwa 20% der Soldaten mit diesem "Töten" keine Mühe haben. Die verbleibenden 80% Mehrheit hat aber in der Regel mit schwerwiegenden seelischen Folgen  zu kämpfen: posttraumatische Belastungssyndrome sind in der Regel die Folgen. Yishai Sarid geht diesem fürchterlichen Problem in seinem Buch nach. Seine Protagonistin Abigail, eine Psychologin und Fachfrau auf diesem Gebiet, versucht in Kursen (und Therapien) den Soldaten und Offizieren diesbezüglich beizustehen. 

Yishai Sarid beschreibt in seinem Buch nicht nur sehr detailliert, sondern auch sehr emphatisch unzählige Situationen rund um Abigails berufliche Tätigkeit. Aber nicht nur das. Er schildert auch enorm eindrücklich das persönliche Leben von Abigail in ihrem sozialen Umfeld. 

Dieses Buch hat mich nicht unberührt gelassen! Ich empfehle es weiter.

14. März 2021 

Ich persönlich bin nicht nur ein "Bücherwurm", sondern ich liebe auch Filme über alles. Vor allem wenn es Filme sind, die mich "packen". 

In der gegenwärtigen Corona-Pandemie-Zeit mit ihren Restriktionen (v.a. dem Kinoverbot) geniesse ich ganz speziell die Fernseh-Serien des Kultursenders ARTE (bilingue), der in der letzten Zeit einige Juvelen an Serien anzubieten hatte. Ich möchte gerade mit einer TV-Serie beginnen, die mich als Psycholog ganz speziell ansprach: 

IN THERAPIE 

Auf der Couch nach den Pariser Anschlägen

Die neue Serie der Erfolgsregisseure Eric Toledano und Olivier Nakache ("Ziemlich beste Freunde").

Hier geht es um Psychotherapie-Sitzungen auf psychoanalytischer Ebene, kurz nach dem schrecklichen Attentat auf die Pariser Konzerthalle Bataclan. Ich persönlich bin von meiner Grundausbildung von Adlers Individualpsychologie beeinflusst, der sich im Jahr 1911 klar vom dominierenden Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse absetzte und gerade auf der praktischen Psychotherapie einen eigenen Weg fand und ausbaute. Hier in dieser Fernsehserie - das muss ich betonen - wird die klare Psychoanalyse praktiziert. Die Libido (v.a. alles Sexuelle, es ist immer wieder die Rede von "vögeln") spielt in diesen therapeutischen Situationen eine ausserordentlich grosse Rolle. Für meinen Geschmack wird dabei das "soziale Element" eher etwas vernachlässigt. Gerade bei der Begrüssung und Verabschiedung geht Dr. Dayan (aus meiner Sicht) eher (zu) kühl, fast abweisend, vor. Hier in dieser Fernsehserie kommt es auch zu gewissen Ungereimtheiten, wenn zB der Psychoanalytiker sich ungehemmt in die Patientin verliebt und diese Gefühle auch versucht auszuleben. 

Lesen wir einmal den Text auf ARTE zu dieser Fernsehserie: 

"Nehmen Sie Platz auf der ARTE-Couch. Die Therapie kann beginnen. In Interviews erzählen die Schauspieler und Regisseure der Serie "In Therapie" ihre Erfahrungen während des Drehs ausleben, wie sich der Psychoanalytiker Dr. Philippe Dayan in seiner Praxis im Pariser 11 Arrondissement als Psychoanalytiker verhält:  Weinend sitzt (im ersten Film) die junge Chirurgin Ariane bei ihm auf dem Sofa. Langsam beginnt sie von ihren Erlebnissen der Nacht der Terroranschläge auf die Konzerthalle Bataclan zu erzählen ... - Die Serie (2020) zeichnet ein Bild Frankreichs nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris. 

Ariane – Montag, der 16. November 2015 um 9 Uhr Der Psychoanalytiker Dr. Philippe Dayan hat seine Praxis im Pariser 11. Arrondissement und betreut seit einem Jahr die 35-jährige Chirurgin Ariane. Heute sitzt sie weinend bei ihm auf dem Sofa. Langsam beginnt sie von ihren Erlebnissen in der Nacht der Terroranschläge auf die Konzerthalle Bataclan zu erzählen. Sie berichtet ihm von ihrer Arbeit im Operationssaal der Klinik Saint-Antoine und von der langen Nacht im Kampf gegen den Tod. Gleichzeitig hat sie das Gefühl, sich ihr Leben zu versauen, da sie und ihr langjähriger Freund Cédric sich vergangene Nacht im Streit getrennt haben. Philippe ahnt, dass Ariane nicht ganz die Wahrheit sagt …" (erster Film der Serie!). Mit weiteren Patienten mit ganz verschiedenen Problemen geht dann die Fernsehserie weiter. 

Regie : Olivier Nakache, Eric Toledano Drehbuch : David Elkaïm, Vincent Poymiro, Pauline Guéna,  Alexandre Manneville, Nacim Mehtar, Olivier Nakache, Eric Toledano

Produktion : Les Films du Poisson, Federation Entertainment, Ten Cinéma

ARTE F, Produzent/-in : Yaël Fogiel, Laetitia Gonzalez, Eric Toledano, Olivier Nakache, Lionel Uzan, Pascal Breton 

Auf der Couch nach den Pariser Anschlägen

Die neue Serie der Erfolgsregisseure Eric Toledano und Olivier Nakache ("Ziemlich beste Freunde"). In Therapie (1/35) - Serie streamen |

Ich habe diese Fernsehserie ganz bequem auf dem Sofa liegend über mein i-Phone verfolgt ... und so richtig genossen. Die hier vorgeführten Lebensgeschichten gingen mir unter die Haut. Aber auch das Vorgehen des Psychoanalytikers Dayan hat mich fasziniert. Und was mich besonders fasziniert hat, war auch der Einbezug der eigenen persönlichen Probleme, Katastrophen des Therapeuten und seiner Supervisorin Esther. Allerdings empfand ich Dayans laufende "Erklärungen" über die erfolgten Prozesse innerhalb der Therapiegespräche etwas zu theoretisch. Für mich als Individualpsychologen kam das "Menschliche", das "eigene Emotionale" etwas zu kurz. - Ich empfehle, diese Fernsehserie zu sehen, mitzuverfolgen und - wenn es geht - mit jemandem zu diskutieren. 

Ich komme zur zweiten Fernsehserie, die ich kürzlich sah und die mich ganz besonders berührte.

Hatufim (Chatufim hebr.: die Verschleppten) - in der Hand des Feindes

Es geht dabei um die israelische Serie über drei israelische Soldaten die während 17 Jahren in syrischer Gefangenschaft das Allerschlimmste in Sachen Demütigungen und physischer Attacken erleben. mussten Nach 17 Jahren wurden sie gegen eine  Anzahl  palästinensischet Terroristen ausgetauscht, die in Israel inhaftiert waren und "Blut an den Händen" hatten (und die in einige ganz besonders brutale Massaker an israelischen Zivilisten verwickelt waren). 

Für mich war es höchst faszinierend, wie in diesen Filmen die Protagonisten, die israelischen Soldaten, nach 17 Jahren in eine völlig veränderte Familiensituation zurückfanden (oder besser: zurückfinden mussten) und versuchten, wieder "Boden" unter den Füssen zu bekommen. 

ARTE berichtet: 

"Zwei im Libanon entführte, israelische Soldaten kehren nach siebzehnjähriger Kriegsgefangenschaft in ihre Heimat zurück. Eine packende und subtile Serie, tief verankert in der israelischen Lebenswirklichkeit.

Folge 1: Die Angehörigen erfahren von der baldigen Rückkehr der beiden Überlebenden und begeben sich zum Flughafen.

 

Verbindungsoffizier Ilan Feldman informiert die Angehörigen von Nimrod und Uri von deren baldiger Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft. Nimrods Frau Talia hat sich zwar stets vorbildlich verhalten, ist nun aber hin- und hergerissen zwischen ihrer Freude und der Angst, der Situation nicht gerecht zu werden. Ihre beiden Kinder versuchen, ihre eigenen Ängste durch zynische Bemerkungen zu überspielen. Nurit, die mit Uri verlobt war und jetzt mit dessen Bruder verheiratet ist, wird von Schuldgefühlen geplagt. Auf Anraten des Militärpsychologen gibt sie vor, Uri treu geblieben zu sein. Amiels Schwester Yael geht entgegen aller Anweisungen mit den anderen zum Flughafen, um den Leichnam ihres Bruders in Empfang zu nehmen. Während sich die Überlebenden zögerlich ihren angespannten Verwandten nähern, hat Yael plötzlich eine Vision: Ihr Bruder, strotzend vor Kraft und Jugend, schließt sie in seine Arme. (diese Beschreibung bezieht sich auf den ersten Film, einem Anfang von unzähligen weiteren sehr happigen Episoden!)

Hatufim - In der Hand des Feindes - Fernsehfilme und Serien | ARTE

Regie : Gideon Raff

Drehbuch : Gideon Raff

Produktion : Keshet TV, Tender Productions, Israel

Produzent/-in : Liat Benasuly

Kamera : Itai Ne'eman

Schnitt : Simon Herman, Ido Mochrik

Musik : Avraham Tal,  Adi Goldstein

Diese Fernsehserie wirkte auf mich sehr authentisch; ich fühlte mich direkt involviert und konfrontiert mit "echten" Schicksalen in diesen unglaublich schwer erträglichen Situationen. Die Schauspieler repräsentierten für mich in diesen Filmen ganz eindrücklich die echten Menschen, die durch diese schreckliche Zeit während 17 Jahren Kerkerhaft, ausgeliefert an sadistische Henkersknechte, ganz extrem traumatisiert waren und es nur mit grosser Mühe schafften, sich wieder in ein "normales", geregeltes Zivilleben mit ihren Angehörigen einzuleben.

Man muss diese Fernseh-Serie selber erlebt haben, um ein bisschen verstehen zu können, was es heisst, während so langer Zeit in einer irrealen, unmenschlichen Welt während so langer Zeit verbracht zu haben und dann wieder in eine reale Welt zurück katapultiert zu werden. Ich empfehle diesen Film wärmstens!  Aber Achtung: es gibt hier manchmal fast unerträgliche Szene aus der Kerkerhaft, die nicht für jedermann geeignet sind. 

Und in der dritten Fernsehreihe, die ich hier vorstellen will, und die ich soeben gesehen habe, geht es um etwas komplett anderes: Um alltägliche Leidenschaften und Sorgen um Bewohner einer englischen Reihenhaussiedlung: 

MUM - eine ganz gewöhnliche Familiengeschichte

In dieser Fernsehreihe geht es in der Tat um ganz hundsgewöhnliche Ereignisse, auch Leidenschaften und täglich auftretende Sorgen. Auf den ersten Blick wirken die Szenen so plump, so "alltäglich" , und dann gerät der Zuschauer  in Versuchung, nicht mehr weiter zu schauen. So erging es jedenfalls mir! Aber je mehr ich die Szenen dieser Alltagsgeschichten in einem englischen Reihenhaus mit ganz "gewöhnlichen" Leute verfolgte, umso mehr fühlte ich mich gefesselt! Am Schluss aller Sequenzen bekam ich sogar fast ein wenig das Gefühl, dort dazu zu gehören, ein Teil von diesen Menschen zu sein! 

ARTE beschreibt diese Film-Serie wie folgt: 

 

Mit fast 60 wird die zarte Cathy mit dem Tod ihres Mannes konfrontiert, inmitten einer liebevollen, aber sehr schamlosen Familie. Eine Sitcom mit bissigem Humor, gesponnen aus den kleinen Dingen des Alltags, gepaart mit einer schönen Romanze.

 

Verfügbar vom 18/12/2020 bis 17/03/2021: Mum - Staffel 1 (1/6) - Januar - Serie streamen | ARTE 

 

Mit fast 60 wird die zarte Cathy mit dem Tod ihres Mannes konfrontiert, inmitten einer liebevollen, aber sehr schamlosen Familie. Eine Sitcom mit bissigem Humor, gesponnen aus den kleinen Dingen des Alltags, gepaart mit einer schönen Romanze. Folge 1: Cathy empfängt ihre Familie zur Beerdigung ihres Mannes.

 

Cathy, 59 Jahre, hat gerade ihren Mann verloren. Am Tag der Beerdigung empfängt sie ihre Familie. Ihr Sohn Jason denkt, er helfe ihr sehr, indem er sein Hemd selbst bügelt. Nervös nimmt Cathy die Spitzen der krankhaft snobistischen Freundin ihres Bruders, Pauline, mit weniger Freundlichkeit auf als sonst. Sie macht auch die Bekanntschaft von Kelly, der Freundin ihres Sohnes, die sich mit entwaffnender Unschuld einen Fauxpas nach dem anderen leistet. Wie immer kommen Maureen und Reg, Cathys verwöhnte, aber sehr schlagfertige Schwiegereltern, zankend an. Währenddessen wartet Michael, ein alter Freund, darauf, seinen schönen Blumenstrauß, den er mitgebracht hat, überreichen zu können.

 

Alltäglich Leidenschaften und Sorgen

 

Einen Dummkopf als Sohn und seine alberne Freundin, von der Realität ebenso weit entfernt wie die Schwiegereltern, die offiziell den Verstand verloren haben, ein liebevoller, aber leicht ungeschickter Bruder und eine unausstehliche Schwägerin: Um der Trauer in ihrem gastfreundlichen Vorstadthaus zu begegnen, ist die zarte Cathy (die reizende Lesley Manville, bei River auf ARTE) nicht gerade von den perfekten Leuten umgeben. Glücklicherweise kann sie auf die Unterstützung ihres Freundes Michael zählen, von dem sie als einzige nicht weiß, dass er wahnsinnig in sie verliebt ist. In dieser bittersüßen Sitcom, in der gezwungenes Lachen oft auf der Tagesordnung steht, entspricht jede Episode einem Monat des Jahres, mit Ausnahme der letzten explosiven Staffel, bei der sich die Ereignisse auf eine Woche konzentrieren. Mum schwelgt in Unbequemlichkeiten, aber auch in der Zärtlichkeit der Familienbeziehungen.

 

Mit kleinen Schritten folgt die Handlung dem Werdegang einer älteren Frau, die ihr neues Leben meistert und ihren Lieben zeigt, dass es mit 60 noch nicht vorbei ist. Verankert in einem äußerst prosaischen Alltag, einschließlich Toilettengängen, versteht es Mum dennoch, wie aus dieser Banalität Leidenschaft, Grausamkeit und Romantik entstehen kann. Peter Mullan (Top of the Lake) verkörpert einen unwiderstehlichen Michael mit verhaltener Inbrunst. Dorothy Atkinson (Pauline), eine versnobte, schlecht gelaunte Plage, die versucht, ihren Partner zu quälen, ist auch nicht schlecht.

 

Regie : Richard Laxton

 

Produzent/-in : Big Talk Productions

 

Mit : Lesley Manville, Peter Mullan,

 

Autor : Stefan Golaszewski

 

Verleiher : Itv Global Entertainment Limited

 

Land : Großbritannien

 

Jahr : 2016

Diese Familienepisoden wirken auf den ersten Blick sehr "alltäglich". Aber sehr bald zeigt es sich dann, dass die verschiedenen Rollen, die die einzelnen Glieder dieser Familiengruppe spielen, überall vertreten sein können! Und der Schluss hat mir dann ganz besonders gefallen: Cathy findet ihren Rank zu Michael, dem "Gutmütigen", aber "verlässlichen" und liebevollen Freund für ihr Alter. - Ich kann diese Fernseh-Serie all denen empfehlen zu schauen, die gerne ein Porträt einer ganz gewöhnlichen Familie geniessen wollen, in der man möglicherweise selber einen Part mitspielt, die vielleicht sogar einige eigene familiäre Situationen spiegeln!  

 

 

24. Februar 2021 

Das folgende Buch ist mir rein zufällig "zugeflogen": 

Die Tochter der Geliebten von A.M. Homes

Es scheint, dass die Autorin, eine Amerikanerin, in diesem Buch ihr eigenes Schicksal als Adoptierte peinlich genau abrollen lässt. Sie wächst als adoptierte Tochter in einer ausgeglichenen, friedlichen, jüdischen Familie auf. Mit 31 Jahren sucht sie - wie viele andere in einer ähnlichen Lage - ihre Wurzeln, ihren biologischen Ursprung. Sie sucht ihre Eltern, zu denen sie bis anhin keinen Bezug hatte, nicht einmal ihre Namen kannte. Diese Suche ist allerdings nicht so einfach, es gibt da Hürden, die fast nicht zu  überwinden sind. Aber nicht nur das: es harren grosse Überraschungen auf sie. Ihre Ausführungen nach dem Ursprung ihrer biologischen Erzeuger und Vorfahren gleichen einer Berg- und Talbahn - in Sachen Gefühlen. Sie findet die Mutter, die als ganz junges Mädchen mit einem wesentlich älteren Mann eine Liaison einging, schwanger wurde, und das Kind, ein Mädchen (die Autorin) unmittelbar nach der Geburt zur Adoption frei gab. Der Kindsvater, verheiratet, hatte offenbar nie im Sinne gehabt, seine Familie mit drei Kindern zu verlassen. Die Autorin lernt ihre leibliche Mutter kennen, die nie verheiratet war und ein sehr bewegtes, unruhiges Leben führte, und dann auch ihren biologischen Vater. Bei diesen Begegnungen kommt es zu vielen Enttäuschungen.  

Lesen wir noch die Buchbeschreibung von Amazon: 

Wer bin ich? Die aufwühlende Reise des Adoptivkinds A.M. Homes zu den eigenen Wurzeln

Die Autorin des Bestsellers »Dieses Buch wird Ihr Leben retten« erzählt ihre eigene Geschichte. Und auch die liest sich wie ein Roman. Als Adoptivkind erfährt A.M. Homes erst mit 31 Jahren, wer ihre leiblichen Eltern sind. Es folgt eine emotionale Detektivgeschichte, bewegend, authentisch, brillant.

»Ihr Päckchen ist angekommen, und es hat eine rosa Schleife.« Mit diesen Worten wird Phyllis und Joe Homes an einem Dezembertag des Jahres 1961 die Geburt ihrer Adoptivtochter angekündigt. Die Familie ist überglücklich, hat sie doch erst sechs Monate zuvor ein eigenes Kind verloren.

Dreißig Jahre später meldet sich völlig unerwartet die leibliche Mutter, und kurz darauf gibt es auch einen Kontakt zum Vater. Der Eindruck dieser beiden Individuen auf die erwachsene A.M. Homes ist zunächst verstörend. Die großen Fragen »Wer bin ich?« und »Wo komme ich her?« drohen sie aus der Bahn zu werfen, lähmen sie, aber machen sie auch wütend. So lange, bis sie sich auf die Suche nach Antworten macht, die sie am Ende dort findet, wo sie sie gar nicht erwartet hätte.

A.M. Homes erzählt ihre eigene tragische, witzige und zum Teil absurde, vor allem aber zu Herzen gehende Geschichte mit einer literarischen Meisterschaft, die ihresgleichen sucht."

Ich musste mich am Anfang dieses Buches ein bisschen durch die Seiten kämpfen. Ich hatte erwartet, dass die Suche dieser jungen Frau etwas harmnischer verlaufen würde, sie auch auf eine etwas liebevollere   Mutter und  Vater stossen würde. Das Gegenteil ist der Fall. A.M. Homes versteht es aber auf eine unendlich sensible Art die Begegnungen mit ihrer sehr komplexen Mutter und auch ihres sehr eigenwilligen biologischen Vaters ganz menschlich ablaufen zu lassen. Immer schimmern bei ihr sehr mitmenschliche Gefühle mit. Zum Schluss kommt sie - so denke ich - zur Erkenntnis, dass ihre Adoptiveltern, inklusive der Grossmutter, deren Tisch sie erbt, ganz wunderbare Menschen waren, die ihr durch diese Adoption ein glückliches eigenes Leben aufbauen und führen ermöglichten. 

Diese Ausführungen haben mich bewegt, sie haben mich  insofern bewegt, dass ich mir ganz persönlich auch eigene Gedanken über meine Familie, meinen eigenen Ursprung, meine Vorfahren machte. - Ich kann dieses anspruchsvolle Buch von Herzen weiterempfehlen. 

13. Februar 2021

Heute herrscht ein eiskalter Wintertag, ein Schabat. Den Schacharit-Gottesdienst verfolgte ich am Morgen (ausnahmsweise) über Streaming. Den Nachmittag vertiefte ich mich in den allerneuesten Krimi von Alfred Bodenheimer, soeben erschienen:

DER BÖSE TRIEB - ein Fall für Rabbi Klein 

Alfred Bodenheimer, 1965 in Basel geboren und Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel, pendelt zwischen Basel und Jerusalem (wo seine Familie lebt) hin und her. Und wie er, so pendelt auch sein Protagonist Rabbi Klein überall herum und steckt und streckt seine Nase in Sachen,  die ihn eigentlich als Rabbiner der Zürcher Cultusgemeinde (bei der ich auch Mitglied bin) nur entfernt etwas angehen. Rabbi Gabriel Klein ist aber ein richtig cleveres Bürschchen, liebt seine Frau Rivka auf eine neckische Art und entdeckt auch in dieser neuesten morbiden Geschichte die verrücktesten Kombinationen von menschlichen Beziehungen und Verhaltensmustern.

Bei seinem neuesten Krimi "Der böse Trieb" geht es um Mord, Karrierekrise, Ehekrach. Und immer wieder gerät der gutmütige aber irgendwie doch schlaue Rabbi in ungemütliche Situationen, die sich dann aber früher oder später auflösen. Bodenheimer versteht es, den Leser so quasi an der Nase herumzuführen und lüftet das Geheimnis des Mörders - wie es für einen guten Krimi gehört - erst fast am Ende. Ganz am Ende gibt es dann noch einen kurzen Rückblick über die Irrungen und Wirrungen Rabbi Kleins rund um diese morbide Geschichte.  

Um was geht es bei diesem neuesten Knüller von Alfred Bodenheimer (hintere Umschlagseite): 

"Eigentlich hat Rabbi Klein in seiner Zürche rGemeinde genug zu tun, doch als in Inzlingen kurz hinter der deutschen Grenze der Zahnarzt Viktor Ehrenreich erschossen wird, fühlt sich Klein zu einem Kondolenzbesuch bei dessen Ehefrau Sonja verpflichtet. Schliesslich kannte er den Toten gut: Jeweils kurz vor dem jüdischen Neujahr hat er eine "Sichat Nefesch", ein Seelengespräch, mit ihm geführt. Steht der Mord mit den Eheproblemen der Ehrenreichs in Verbindung? Oder hat er mit Viktors regelmässigen Reisen in den Kongo zu tun? Und welche Rolle spielt Sonjas Freukndin Anouk Kriesi, die mit ihrem Mann einen dubiosen Youtube-Kanal unterhält? Klein beginnt selbst zu ermitteln - auch, um sich nicht mit seinen eigenen Problemen beschäftigen zu müssen: Er hat sich so mächtige Feinde gemacht, dass ihm ein Berufsverbot droht. Das Schlimmste aber ist, dass seine Frau Rivka wütend auf ihn ist: Denkt Klein zwischen seinen ganzen Verpflichtungen vielleicht auch mal an sie und seine Töchter?"

"Rabbi Gabril Klein ist einer der ungewöhnlichsten Ermittler in der deutschsprachigen Kriminalliteratur." schreibt Axel Knönagel /dpa. 

Ich habe einmal Alfred Bodenheimer an einem Schiur in der ICZ , einer Lesung aus seinen Büchern, kennengelernt und ihn als eher stillen, ruhigen, eher ein bisschen introvertierten Menschen wahrgenommen, fast ein bisschen bieder. Es scheint, dass in seinem Krimi-Gedankengebäude nicht nur Biederes herumwirbelt. In seinen Krimis geht es nicht nur um Mord und Todschlag. Es gibt auch viele nette, erotische Anspielungen. 

Dieser neueste Bodenheimer-Krimi, den ich an diesem heutigen, eiskalten Schabat voll durchgelesen habe, hat mir grosse Freude gemacht. Er entführte mich in die turbulente Welt von Rabbi Gabriel Klein und seine verwickelten Mord- und Todschlaggeschichten.  Ich kann diesen neuesten spannenden Bodenheimer-Krimi jedermann weiterempfehlen. 

5. Januar 2021

Die Zweite Corona-Pandemie Welle hat wieder zugeschlagen, und über das Jahresende bei all den einzuhaltenden Restriktionen bot das Bücherlesen eine wunderbare Alternative. Ich vertiefte mich in Barack Obamas neueste Autobiografie (englische Originalausgabe) und, wieder einmal mehr, in die Lehrbücher von Viktor E. Frankl's Logotherapie/Existenzanalyse.

Eines der für mich wichtigsten Publikationen des dritten Wiener Psychologen (neben Freud und Adler) Viktor E. Frankl ist die Publikation

"... trotzdem ja zum Leben sagen" (Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager) 

Ich habe dieses Buch von Frankl in der Vergangenheit schon einige Male gelesen und jedesmal wieder auf eine ganz neue Art erlebt. So ging es mir auch jetzt! Frankl schrieb kurz nach Befreiung aus der furchtbaren KZ-Gefangenschaft diese Gedanken über das Erlebte. Nichts ist beschönigend, was der Leser hier vorgesetzt bekommt. Aber hier erlebt man von einem Betroffenen während der schlimmen, unmenschlichen Zeit sehr viel sehr Menschliches, das Frankl durchmachen musste, das er erlebte und nur durch seinen selbst erfahrenen und praktizierten "Sinn des Lebens". Das bewegt! 

Amazon beschreibt dieses Werk von Frankl kurz und bündig auf sehr treffende Weise: 

" Mehrere Jahre musste der österreichische Psychologe Viktor E. Frankl in deutschen Konzentrationslagern verbringen. Doch trotz all des Leids, das er dort sah und erlebte, kam er zu dem Schluss, dass es selbst an Orten der größten Unmenschlichkeit möglich ist, einen Sinn im Leben zu sehen. Seine Erinnerungen, die er in diesem Buch festhielt und die über Jahrzehnte Millionen von Menschen bewegten, sollen weder Mitleid erregen noch Anklage erheben. Sie sollen Kraft zum Leben geben."

Man muss dieses Buch gelesen haben, um diese Aussage von Amazon zu verstehen. Man muss es auch gelesen haben, um Frankls dort praktisch erfahrene Lebensweisheit und seine erarbeitete psychologische Richtung der Logotherapie/Existenzanalyse verstehen zu können. 

2020

 25. Dezember 2020

Die "Sinnsuche" ist aus meiner Sicht für jeden Menschen etwas Grundsätzliches, etwas vom Wichtigsten. Viktor E. Frankl hat diese menschliche Sinnsuche in seiner Logotherapie/Existenzanalyse zum Zentrum seines Anliegens gemacht. 

Es gibt viele Bücher von und über Viktor E. Frankl. Er selber hat 31 Bücher selber publiziert. Das 31. Buch trägt den Titel: 

VIKTOR E. FRANKL - Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen

Mit seinen 114 Seiten, gespickt mit vielen "Lebenserinnerungen", die mit viel Humor und Lebensweisheit von Viktor E. Frankl vorgetragen werden, wirkt dieses Buch ausserordentlich erfrischend auf mich! 

Auf dem Klappentext lesen wir: 

In seinen Erinnerungen und Reflexionen fasst Viktor E. Frankl assoziativ zusammen, was ihm in seinem Leben wichtig erscheint: seine Kindheit und Jugend in Wien, die Arbeit als Nervenarzt, die Anfänge der Logotherapie, seine Auseinandersetzung mit Freud und Adler und ihren Einfluss auf die Logotherapie. Aber auch seinen Aufenthalt in vier verschiedenen Konzentrationslagern und seine Rückkehr nach Wien, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1997 lebte. 

Ich habe mich mit den Ideen und dem Vorgehen rund um Psychotherapie von Viktor E. Frankl seit Jahren autodidaktisch beschäftigt. Diese Franklschen "Lebenserinnerungen" haben mich  animiert, wieder einmal mehr die Bücher über Logotherpie/Existenzanalyse unter die Lupe zu nehmen. In meinem reifen Alter gibt es nach wie vor "Sinn", meinen "Sinn des Lebens" zu hinterfragen. 

Diese Lebenserinnerungen von Viktor E. Frankl, lebhaft, frisch und eindrücklich geschrieben, kann ich wärmstens weiter empfehlen! 

20. Dezember 2020 

Ich habe soeben drei Bücher über drei sehr unterschiedliche Gebiete gelesen, die mich sehr beeindruckt haben und die ich hier besprechen möchte! 

Hier zum ersten Buch, das ich mit grossem Interesse gelesen habe und das mir auch viele ganz neue Sichtweisen über einen grossen Politiker (mit Schattenseiten) eröffnete: 

Friedenskanzler? Willy Brandt zwischen Krieg und Terror von Michael Wolffsohn

Im NZZ Feuilleton las ich eine Rezension von Michael Wolffsohn über sein 2018 erschienenes Buch über Willy Brandt, die mich neugierig machte. Seine Ausführungen zeigten mir  gewisse Schattenseiten der deutschen "Lichtgestalt" Willy Brandt, die ich bisher nicht kannte.

Wolffsohns Rezension dieses Buches war mit "Brandts Kniefall und die Nahostpolitik" überschrieben.Diese berühmteste Demutsgeste deutscher Nachkriegsgeschichte wirft gerade heute wieder einige Fragen auf! War diese "Demutsgeste" im ehemaligen jüdischen Ghetto in Warschau eine Referenz den jüdischen Opfern gegenüber? War sie so "spontan", wie sie wirkte, oder gab es da vielleicht eine gewisse "Berechnung" dahinter? Was steckte hinter dieser beispiellosen Geste genau? 

Wolffsohn kommt in seinen Ausführungen auf die immer wieder zu beobachtenden "Antisemitismen" bei der Linken zu sprechen. Das jüngste Beispiel mag der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn sein, der in den letzten Jahren mit seinen antisemitischen und antizionistischen (Israel hasserischen) Statements zu reden gab! Er trat dann zurück. Aber es scheint, dass es in den Sozialdemokratischen Parteien Europas generell eine Tatsache  ist, dass antijüdische, aber v.a. antiisraelische Tendenzen ausgelebt wurden und werden. 

Und in diesem Segment ortet Wolffsohn auch den deutschen "Friedenskanzler" Willy Brandt, der bereits in den Dreissiger Jahren gewisse Anzeichen einer ambivalenten Gesinnung gegenüber "den" Juden zu haben schien. Nachweislich sprach er immer wieder generalisierend von "den jüdischen Kapitalisten". Das tönte so, als ob "die"Juden nur aus Kapitalisten bestehen würden. Sein Wissen der jüdischen Soziologie, v.a. der jüdischen Heterogenität, die für ihn unbekannt war,  schien damit erschöpft zu sein. 

Aber es kam dann während seiner Amtszeit als deutscher Bundeskanzler noch problematischer: Sein Wirken rund um das Olympiamassaker in München im Jahr 1972, aber dann v.a. sein Verhalten rund um den Jom-Kippur-Krieg 1973, dem Angriff Ägyptens und Syriens auf ein ahnungsloses Israel, der wieder einmal mehr die totale Vernichtung des jüdischen Staates erzielen wollte, und der Israel jedenfalls am Anfang fast in den Abgrund stiess, muss mehr als "problematisch" bezeichnet werden. Israel kämpfte damals in der Überraschung nach ersten katastrophalen territorialen Eroberungen der beiden arabischen Staaten mit einem möglichen Untergang! Waffen mussten von aussen an die verzweifelten Israelis nachgeliefert werden, und zwar aus den USA aus Beständen ihrer Armeeeinheiten in Westeuropa! Die Regierung Brandt versuchte eiskalt alles, um diesen Waffennachschub zu unterbinden. Waffenliegerung direkt aus den USA durften nicht über europäische, schon gar nicht deutsche, Flughäfen geschehen.

Wolffsohn wartet in seinem Buch mit den entsprechenden Einzelheiten aus neu eröffneten Quellen auf, die gerade auf die Regierung Brandt ein hochproblematisches Licht werfen. Willy Brandt war, so Wolffsohn, kein Freund der Juden und schon gar kein Freund des jüdischen Staates Israel.

Wolffsohn kommt auf die Rolle des Journalisten Klaus Harpprecht zu sprechen, der als Freund Willy Brandts galt, und der ihm vorschlug, "eine öffentliche Geste" gegenüber der jüdischen Welt zu leisten, die dann eben am 7. Dezember 1970 durch Brandts Kniefall im ehemaligen jüdischen Ghetto in Warschau erfolgte.  

Was sagt die AMAZON-Buchbesprechung kurz und bündig über den Inhalt von Wolffsohns Buch: 

Die Nahostpolitik der Ära Brandt und ihre Folgen

Der Willy Brandt verliehene Friedensnobelpreis und die mit seiner Ostpolitik verbundene Aura wirken bis heute nach. Der Kniefall in Warschau ist legendär. Die bundesdeutsche Nahostpolitik verlief weniger glücklich.

Hier hat die damalige Bundesregierung schwere Fehler begangen und große Risiken in Kauf genommen. Das wird aufgezeigt auf der Basis erstmals zugänglicher Dokumente. Im Fokus stehen das Olympia-Attentat 1972 auf israelische Sportler in München, die Freipressung der Terroristen im Oktober 1972, der Versuch von Israels Ministerpräsidentin Golda Meir, 1973 den Genossen Willy Brandt für die Friedensvermittlung zu gewinnen, und die Krise zwischen Bonn und Washington während des Yom-Kippur-Krieges 1973, als ein atomarer Weltkrieg drohte.

Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist, lehrte von 1981  bis 2012 an der Universität der Bundeswehr München. Er schreibt flüssig, witzig, analytisch und immer auch selbstkritisch in seinen Aussagen. Seine Sicht der Dinge überzeugen mich: Willy Brandt war einerseits wohl eine "Lichtgestalt", aber er hatte auch bezüglich Judentum und Israel seine Schattenseiten, die zu bedenken sind. Diesen zwei Seiten Willy Brandts geht Michael Wolffsohn analytisch und fair nach!  

Ich kann diese Publikation jedermann, der Interesse an dieser Thematik hat, wärmstens empfehlen! 

 

Ich komme zum zweiten, soeben gelesenen und genossenen Buch, das ich hier vorstellen will:

 

Was hilf Psychotherapie, Herr Kernberg? (2020) von Manfred Lütz

 

Otto Kernberg wird in diesem Buch von Manfred Lütz als „der berühmteste Psychotherapeut der Welt“ angepriesen. Das ist wohl etwas hoch gegriffen. Aber „berühmt“ und ein Experte ist Otto Kernberg ganz sicher bezüglich seiner Arbeit auf dem Gebiet der Narzissmus-Forschung.

 

Der Psychoanalytiker Otto Kernberg ist ein psychologisches Schwergewicht, ein Urgestein und ein grosser Psychologe aus altem Schrot und Korn, geprägt durch seine Wiener Zeit der Dreissigerjahren. Hier in diesem Buch von Manfred Lütz lernte ich diese Persönlichkeit in Dialogform auf eine sympathische Art kennen. Lütz wird in diesen Gesprächen mit Kernberg jeweils sehr direkt. Er will wissen, was „die Seele“ ist, ob er zB auch den US-Präsidenten Trump behandeln würde, was als  Irrwege der Psychotherapie zu betrachten sei, was einen guten Psychotherapeuten ausmache.

Kernberg erzählt auch sehr detailliert über seine Jugend in Wien als jüdisches Kind, seine Begegnung mit Sigmund Freud, und auch seine Erfahrungen mit Antisemitismus und seine weitere Entwicklung in Chile, wohin er mit seiner Familie noch vor der Machtergreifung der Nazis flüchtet. In diesen Gesprächen wird das ganze Leben dieses in die Jahre gekommenen Psychologen abgerollt und auf sehr menschliche Art hinterfragt.

 

Was hat AMAZONAS Buchbesprechung über dieses Buch zu sagen:

Otto Kernberg (Jahrgang 1928) ist einer der einflussreichsten Vertreter psychotherapeutischer Praxis, Lehre und Forschung und der weltweit prominenteste Wissenschaftler auf dem Gebiet der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Bestseller-Autor Manfred Lütz trifft ihn für dieses Buch zum Gespräch. Erstmals zieht Kernberg darin Bilanz seines privaten und beruflichen Lebens, das ihn auf der Flucht vor den Nazis von Wien über Chile bis in die Akademikerkreise der USA führte. Bei der Beantwortung von Fragen wie „Was sind Irrwege der Psychotherapie?“, „Wer ist ein guter Therapeut?“, „Was ist die Seele?“ schöpft er aus über 65 Jahren Praxiserfahrung – mit höchster Kompetenz ebenso wie mit spannenden Patientengeschichten. In seiner New Yorker Praxis, nur wenige Hundert Meter vom Trump-Tower entfernt, äußert sich der Spezialist für Narzissmus dann auch zum amerikanischen Präsidenten Donald Trump.

Zwischen Manfred Lütz (Psychiater und Theologe) und Otto Kernberg entwickelt sich während ihres drei Tage dauernden Zusammentreffens ein fesselnder und tiefgehender Dialog. Im Austausch über erschütternde Erlebnisse Kernbergs als jüdisches Kind im von den Nazis besetzen Wien, seine Schul- und Studienjahre in Chile, den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche, die Frage nach der Existenz Gottes und vieles mehr entsteht ein faszinierendes Porträt Kernbergs, der eine wahre Jahrhundertpersönlichkeit ist.

Im Vorwort beschreibt Lütz seine Begegnung mit Kernberg mit diesen Worten: „Was mich aber wirklich überwältigte, war der Inhalt unseres Gesprächs. Ich wusste, dass es spannend werden würde, aber was ich dann erlebte, übertraf jede Erwartung. Otto Kernberg war rückhaltlos offen, offenbarte mit größter Selbstverständlichkeit höchst Persönliches, was öffentlich bisher niemandem bekannt war, und diese Offenheit ließ das Gespräch immer wieder existenzielle Tiefen erreichen.“

Beim Lesen dieses Buches hatte ich so zwischendurch den Eindruck, dass ich direkt dabei war, mithören konnte und auch eigene Fragen stellen durfte. Das ist ein „schönes“ Buch, das Türen zu einem wirklich grossartigen Menschen öffnet. Ich kann es für alle an Psychologie Interessierten wärmstens empfehlen!

... und damit kommen wir zum dritten Buch, das ich hier vorstellen möchte, das ich gerade gelesen habe: 

In diesem Buch geht es um die Schilderung von Selbsterlebtem, eines «Partisanen» in der französischen Résistance in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges:

Als Partisan im französischen Widerstand (2006) Herbert Herz

Wie ich verstehe, wurde dieses Buch vom Verfasser Herbert Herz im reifen Alter zusammen mit seiner Enkelin erarbeitet. Der Autor, wurde 1924 in Augsburg geboren, im damaligen Deutschland als deutsches jüdisches Kind sozialisiert und als Halbwüchsiger mit seiner Familie in die Flucht nach Frankreich gezwungen. Sein Vater starb früh, sein älterer Bruder Manny wurde deportiert und kam in Auschwitz ums Leben. Seine tüchtige und resolute Mutter spielte in dieser Kriegszeit eine wichtige Rolle. Aber Albert Herz wusste sich auch selber recht gut in dieser düsteren Zeit durchzuschlagen, seinen Weg zu finden und landete letzten Endes dann als Partisan im Widerstand gegen die Nazi-Unterdrücker.

Ich kam auf eine sehr spezielle Art zu diesem Buch. Im Dezember 2019 nahm ich als Delegierter der hiesigen Liberalen Jüdischen Gemeinde während einigen Tagen an einem Kongress der französisch sprachigen Liberalen Gemeinden beim GIL in Genf teil. An einem Empfang wurde ich dort von einer Dame kurz angesprochen. Sie übergab mir dieses Buch, eine Ausgabe auf französisch, eine weitere in deutscher Übersetzung. Ich wollte eigentlich dafür bezahlen. Aber im Gewühl der Gäste verlor ich dann diese Dame aus den Augen. Ich konnte nachher nicht mehr eruieren, von wem ich dieses Buch erhielt. Während den vergangenen Monaten lag dieses Buch dann ungelesen in unserem Büchergestell. Als ich nun kürzlich alle Bücher entstaubte und neu ordnete, gelangte es wieder in meine Hände. Und dann vertiefte ich mich in diese Welt des französisch-jüdischen Widerstandes gegen die brutalen, unterdrückenden Nazis, die Frankreich beherrschten. Bereits nach dem Lesen der ersten Seiten war ich vollkommen eingenommen von den Schilderungen. Ich hatte vorher noch nie von Herbert Herz gehört. Erst jetzt schaute ich mich auch im Internet nach diesem Namen um und entdeckte unter WIKIPEDIA den folgenden Eintrag, der mir den Autor dieses bemerkenswerten Buches noch mit weiteren Einzelheiten seines Lebens näherbrachte:

Was sagt WIKIPEDIA über Herbert Herz:

Herbert Herz (known as Georges-Hubert Charnay by false papers) (1924-2016) is a former fighter with the French Resistance in the FTP-MOI, a member of the Carmagnole and Liberté squads of the Lyon region during World War II. His Jewish family emigrated to France in 1934 to escape Nazi persecution. In 1996 he was awarded the Légion d'honneur. He wrote a memoir in 2007 to publicize the role of the many foreigners, mostly Jewish, in the armed Resistance against the Nazis in France.[1]

Early life and education: Herbert Herz was born on May 7, 1924 Augsburg in Bavaria to Simon and Meta Eichenbronner Herz; he had an older brother Emmanuel. His family spent much of his childhood there. After his father and uncle were arrested and held for three weeks in 1933 from being denounced, they decided to leave Germany quickly to escape more persecution under the rise of Nazism. They emigrated to Dijon, France in 1934 when Herbert was 10. He quickly learned the new language and studied in French schools.[2]

World War II: After the Fall of France in 1940, the Herz family evacuated to Bordeaux, where the children continued in school. His father had died in 1939.[2] After its occupation of France, the Nazis continued their actions against the Jews and required French authorities to carry out their orders.

In 1942 the Germans ordered French authorities in the Free Zone to round up all foreign Jews for deportation to Nazi concentration camps. Although Herz was captured by the French Gendarmerie, he escaped with the aid of a professor from his school and avoided internment and deportation.

Going underground at age 18 for a year, Herz rejoined his brother Emmanuel in the South of France, but they went to Grenoble to escape police interest. That area was occupied by the Italians, who did not bother the Jews. In the summer of 1943, they joined the armed Résistance in Grenoble under the aegis of the FTP-MOI (Francs-Tireurs et Partisans – Main-d'Œuvre Immigrée).[3] The FTP-MOI was made up mostly of foreigners, many of them Spanish, Jews from Germany and eastern Europe, and Armenians.

The FTP-MOI in many cases was trained by older fighters who had fought in Spain during its civil war and Italy. The FTP_MOI was present in all the big cities in France, taking armed actions against the Nazi occupation of France, for example, bombing the factories working for the nazis, derailing trains carrying Wehrmacht and SS troops, bombing the Wehrmacht troops, and killing Nazi officers. The Nazis fought back with investigations, roundups, interrogation under torture of prisoners to try to break down the cells. The Germans tried to classify them as foreigners, criminals, terrorists and outsiders, as with the l'Affiche Rouge in Paris, but many of the population embraced the partisans as freedom fighters.

In 1943 Emmanuel Herz tried to make his way into Switzerland, which was neutral. Herz, his mother and sister planned to join him if he was successful. Detained at the border by the Swiss, Emmanuel was turned over to French authorities, who transported him to the intern camp of Drancy. From there he was deported to Auschwitz, where he died. After Grenoble was occupied by the Germans, Herz made his way to Lyon, where he fought more with the Resistance.

In 1996 the French government awarded Herbert Herz the decoration of the Legion d'Honneur for his service.[citation needed]. Herz died in September 2016.

Postwar years: Marriage and family - Herz married and he and his wife had three children together.

Career: After the war, Herz completed his studies in engineering. He went on to work for the Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (CERN) (European Council for Nuclear Research) in Geneva, Switzerland. Now called Organisation européenne pour la recherche nucléaire, it retains the original acronym. Although he has lived and worked in Switzerland for decades, Herz never became a naturalized Swiss citizen, in memory of the Swiss having turned his brother over to French authorities at the border.

Now retired, Herz lives in Ferney-Voltaire. He works as a delegate of the Yad Vashem Institute in Jerusalem to find people who risked their lives to save Jews during the Holocaust. Such people are candidates for the Institute's award of "Righteous among the Nations".[3]

In 2007, Herz published a memoir, Mon combat dans la Résistance FTP-MOI, Souvenirs d'un jeune Juif allemand (My combat in the FTP-MOI resistance, memories of a young German Jew).[3] He wants to publicize the participation of the many foreigners in the French resistance, and highlight the armed fighting of Jews in the struggle against the Nazis and other supporters of Adolf Hitler. He also maintains a blog, where he writes on the Resistance.

Wenn ich diese Zusammenfassung über das Leben von Herbert Herz lese, dann ergänzen diese Informationen wunderbar all die tragischen Ereignisse des Widerstandes, den er mit seinen Kameraden leistete und die ich in seinem Buch lesen konnte.

In der Einführung betont Herbert Herz auch wie wichtig es ihm ist, mit diesen Schilderungen zu zeigen, dass die verfolgten Juden nicht – wie öfters behauptet – sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen liessen. In Frankreich gab es einen entsprechenden Widerstand gegen die Nazis. Und seit längerem weiss man auch, dass dieser jüdische Widerstand auch in den besetzten Ostgebieten existierte. Die Möglichkeiten waren nicht immer gross. Aber ein ganz wichtiges Beispiel des jüdischen Widerstands gegen die mörderischen Nazis ist der Ghetto-Aufstand in Warschau.

Das Buch von Herbert Herz hat mich betroffen gemacht. Es hat mich bewegt und mir wieder einmal mehr gezeigt, dass «Freiheit» nur so viel wert ist, wie der Einzelne, der in dieser Freiheit bedroht ist, bereit ist, sie zu verteidigen. – Herbert Herz starb 2016. Aber seine Botschaft v.a. an uns Juden heisst: sich wenn immer möglich nicht «wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen», sondern sich zu wehren. Das aber gleichzeitig bedeutet auch, dass wir (Juden) ganz besonders sensibel sein müssen für alles Unrecht, das auf dieser Erde geschieht und – wo und wie auch immer – Zivilcourage und wenn nötig auch ganz konkreter Aktivismus ausgelebt werden muss.  

Ende November 2020

Wir befinden uns immer noch in der Corona-Pandemie-Zeit, die von einer ganz speziellen Art des Zusammenlebens gekennzeichnet ist: In den Lockdown-Zeiten von März bis Mai 2020 waren zwangsmässig die sozialen Kontakte generell massiv eingeschränkt. Diese Situation  bot ganz besonders viele Möglichkeiten, ins Bücherlesen auszuweichen. Diese "Einschränkung" bedeutete für mich persönlich als Bücherwurm eigentlich keine wirkliche persönliche Einschränkung – im Gegenteil! Wie schon lange nicht mehr, konnte ich mich in viele Bücher vertiefen, die bisher ungelesen waren. Davon möchte ich berichten!  

Da waren einmal einige Biografien, in die ich mich versenkte und über bedeutende Menschen  vieles entdeckte, das ich bis anhin nicht kannte.

Ich beginne mit der Biographie von Alfred Adler. Während fast 7 Jahren absolvierte ich im Zürcher Alfred Adler Institut meine individualpsychologische Ausbildung. Mit meiner Diplomarbeit mit dem Titel „Alfred Adler und Fjodor M. Dostojevskij – Vergleich der Menschenbilder“ beschäftigte ich mich natürlich sehr intensiv mit Adlers Biographie. Die allerneueste Biografie über Alfred Adler (2019) beinhaltet nunmehr derart detaillierte und komplett neue Informationen über Persönliches von Adler, aber auch über die Ereignisse seiner Welt, in der er lebte und wirkte,  die mich überraschen!  

ALFRED ADLER – Die Vermessung der menschlichen Psyche – Biographie. Von Alexander Kluy

AMAZON Buchbesprechung: 

" Die große Biographie des Erfinders der Individualpsychologie

Alfred Adler, neben Sigmund Freud und C. G. Jung einer der Urväter der modernen Psychologie, ist der Begründer der Individualpsychologie. 1911 setzte sich Adler scharf vom Übervater der Psychoanalyse ab. Er wollte eine lebensnahe Psychologie schaffen, die es ermöglicht, den Einzelnen aus seiner individuellen Lebensgeschichte heraus zu verstehen. Seine optimistische positive Lehre wurde rasch sehr populär. In den 1930er Jahren war Adler einer der bekanntesten Psychologen der Welt.

Eingebettet in die Zeitgeschichte und aktuelle Forschungserkenntnisse zeichnet Alexander Kluy das Leben Alfred Adlers nach, der, 1870 in Wien geboren, 1937 auf dem Höhepunkt seines Ruhmes unerwartet in Schottland starb. Diese Biographie mit erstmals veröffentlichten Archivfunden zeigt den Menschen Adler – und die bis heute ungebrochene, hochaktuelle Wirkung seines Werks."

AMAZON übertreibt es nicht: Kluys Adler-Biographie darf man ganz ruhig als "grosse Biographie" bezeichnen, die mit vielen Details über diesen grossen Psychologen aufwartet, die bis anhin nicht bekannt waren. Kluy beschenkt den Leser mit persönlichen Details, die das Leben von Adler,  das Wirken, aber auch seine innerfamiliären Beziehungen, aufzeichnet, die es bis anhin nicht gab. Ich kann diese Adler-Biographie nicht nur für Individualpsychologen, sondern auch jedermann sonst empfehlen, der sich mit der Zeit von damals und mit der Persönlichkeit eines grossen Mannes jener Zeit auseinandersetzen möchte. 

27. September 2020

In den letzten Wochen vertiefte ich mich in die Bücher von Jonathan Sacks, dem weltberühmten Neurologen, der vor fünf Jahren starb. Als Ausgang für das Lesen der Bücher von Oliver Sacks las ich seine Autobiographie «On the Move». Der Mann, v.a. sein Leben, so wie er es in seiner Autobiographie «On the Move» aufzeichnet, faszinierte mich. Bevor ich auf die einzelnen Bücher von Jonathan Sacks eingehe, möchte ich ein Video über den kürzlichen über ihn gedrehten Film präsentieren.

https://www.youtube.com/watch?list=RDCMUCuF-f_kairxTjOyHSItrmtg&v=47ooNWugxRE&feature=emb_rel_end

JEW THE CALL: 'OLIVER IS DYING. WOULD YOU COME AND FILM HIM?'

With months to live, neurologist Oliver Sacks gave a master class on how to die

Documentarian Ric Burns captures celebrated Jewish MD’s final days in a meditation on Sacks’s Orthodox youth, tumultuous career and acceptance of mortality. Film debuts Wednesday

By RICH TENORIO - 23 September 2020, 4:53 am

A photo of Oliver Sacks featured in the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)A photo of Oliver Sacks featured in the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)A still of Oliver Sacks from the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)A still of Oliver Sacks from the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)A photo of Oliver Sacks as a young man with his motorcycle featured in the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)A photo of Oliver Sacks as a young man with his motorcycle featured in the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)A still of Oliver Sacks from the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)A still of Oliver Sacks from the Ric Burns documentary, 'Oliver Sacks: His Own Life.' (Courtesy)

On a Friday night in February 2015, the legendary British Jewish neurologist and writer Oliver Sacks gathered his inner circle in his New York City apartment. For much of his life, Sacks had penned poignant books about his disabled patients, sharing insights about their lives. On this night, however, Sacks gave his audience a heartfelt message about his own life: He had received a terminal cancer diagnosis.

Over the next six months, Sacks gave what one of his friends, the author Lawrence Weschler, called “a master class in how to die.” He continued to write thoughtful prose, this time meditating on mortality, in the company of family, friends and his partner Bill Hayes.

Sitting for filming sessions with award-winning documentarian Ric Burns, Sacks reflected on an extraordinary, sometimes tumultuous life — running away from an Orthodox upbringing, wrestling with his homosexuality, facing rejection by the scientific community for much of his career and finally winning admiration from academia and the public. The year he died, 70 percent of neurology majors at Columbia University Medical School credited Sacks, at least in part, as the inspiration for their choice of study.

Five years later, filmmaker Burns is ready to release his documentary about Sacks to the public. “Oliver Sacks: His Own Life” debuts September 23, through New York’s Film Forum and the Kino Marquee virtual cinema platform. Over the previous year, it was screened at Telluride and the New York Film Festival. Although the general release was delayed six months by COVID-19, Burns is excited that the public now has a chance to see it.

The winner of two Emmy Awards and a Peabody Award, Burns is part of a celebrated duo of American documentarians. He and his brother, Ken Burns, worked together on the 1990 epic “The Civil War” before going on to make separate ventures. Ric Burns has directed a similarly epic series about the history of New York City, and is working on the latest installment, which will cover the period from 9/11 to the COVID-19 era.

In a phone interview with The Times of Israel on August 30 — the fifth anniversary of Sacks’s death — Ric Burns described the unexpected genesis of his latest-released project.

Early in January 2015, Sacks had just finished what Burns described as “a not-yet-published, remarkably candid autobiography.” Around that time, the filmmaker got a call from Sacks’s longtime editor and chief of staff, Kate Edgar.

“Oliver is dying,” he remembered her saying. “Would you come in and film him?”

He got a mortal diagnosis and very much wanted to share the time he had

“He got a mortal diagnosis and very much wanted to share the time he had,” Burns said. “He was told he would die in six months. Indeed, he died in six months. He wanted to think, reflect, explain himself, not only in print, but also on film.”

Documentarian Ric Burns. (Courtesy)

“It was kind of a very different way of doing a film,” Burns said, adding that usually, “someone brings the idea to you, you talk about it and reflect how to go on — writing, interviewing people, fundraising.”

This film, he said, was a “yes” project from the start, and time was of the essence.

Burns embarked upon marathon filming sessions at Sacks’s apartment on Horatio Street in Greenwich Village. Shooting for a total of 80 hours, sometimes using multiple cameras, he filmed Sacks and the rotating circle of loved ones who checked in on him. Prominent journalists and writers dropped in, including surgeon-writer Atul Gawande, and Temple Grandin, an advocate for animal rights and autism awareness. Also interviewed for the film was the theater and opera director Sir Jonathan Miller, who was a friend of Sacks’s since childhood.

“[Sacks] was always sort of surrounded by, in a sense, the family he created for himself during his lifetime,” Burns reflected. “That itself was really quite unique.”

Sacks’s background was also unique. Burns describes him as an atheist homosexual English Jew, and the film sensitively addresses each of these aspects of his life. Notably, he was the uncle of former British chief rabbi Jonathan Sacks, who was criticized in 2013 for his opposition to civil marriage for gay couples in the UK.

A remarkable life unfolds

Oliver Sacks was born in 1933 to accomplished Orthodox parents Samuel Sacks, a general practitioner, and Muriel (Landau) Sacks, who was among the earliest female surgeons in the UK. Sacks was their fourth child. He was a distant relative of Israeli statesman Abba Eban and Nobel Prize-winning economist Robert John Aumann.

A photo of Oliver Sacks featured in the Ric Burns documentary, ‘Oliver Sacks: His Own Life.’ (Courtesy)

Sacks’s childhood was interrupted not only by the Blitz, but also by his brother Michael Sacks’s struggle with schizophrenia. A few years later, when Oliver Sacks turned 18, he came out as gay to his father, and soon his mother learned as well. According to the film, she called him an abomination and wished he never had been born.

“In a sense, from that moment on, he was on the run,” Burns said. “He was escaping his mom, family, sexuality, himself,” with Sacks “running from madness, trying to hide it, soothe it, exacerbate it.”

After receiving his medical degree at Oxford, Sacks left for the United States, finding an uneasy refuge in San Francisco, where the film shows him setting a weightlifting record, having an unsuccessful relationship with a man, taking recreational drugs and going for risky motorcycle rides — all while undertaking a medical residency at UCLA.

He got a new start when he relocated across the country to Beth Abraham Hospital in the Bronx. There, he treated patients left catatonic by a sleeping sickness epidemic from the 1920s. He took the unorthodox step of prescribing a drug called L-dopa. Initial results seemed promising as patients began to walk and talk, yet they had to contend with side effects of the drug and some reverted to their previous condition, according to an article on the NIH website.

The film shows him setting a weightlifting record… taking recreational drugs and going for risky motorcycle rides

Sacks wrote about these experiences in his book “Awakenings,” which he penned with his mother’s input in the family home on Mapesbury Road in London after mending ties with her.

The film shows Sacks continuing to write about his disabled patients in books and articles. After “Awakenings,” for instance, there was the anthology “The Man Who Mistook His Wife for a Hat.” The media proved receptive to Sacks’s contributions.

A photo of Oliver Sacks as a young man with his motorcycle in Greenwich ViIlage, 1961, featured in the Ric Burns documentary, ‘Oliver Sacks: His Own Life.’ (Courtesy)

“I’d read many of his books, I knew him the way most people did,” Burns said. In addition to Sacks’s books, he frequently wrote contributions to The New York Review of Books and The London Review of Books.

Making disability palatable

Burns characterized Sacks’s writings as a bridge between disabled individuals and the wider world. He embodied a trove of data that colleagues initially misjudged as meaningless.

“The data he collected and summarized in his stories was uniquely qualified data — a narrative of interesting, subjective experience,” Burns said. “To know what [his patients are] like, not what it looks like on an MRI, to be a person with myopathy, autism, a neurological condition, whatever it might be.”

A still of Oliver Sacks from the Ric Burns documentary, ‘Oliver Sacks: His Own Life.’ (Courtesy)

The film examines Sacks’s detractors, including those who accused him of sensationalizing his patients. Yet, Burns said, by the 1980s and 1990s, things began to change. The 1990 Robin Williams film adaptation of “Awakenings” brought Sacks large-scale fame, while his ideas won acceptance from respected colleagues such as Francis Crick, who won the Nobel Prize for the co-discovery of DNA.

Oliver did not measure in numbers, but in words

“[Sacks’ work] suddenly seemed relevant,” Burns said. “For most of Oliver’s life, it had been meaningless, unqualified, not data at all… not measurable. But Oliver did not measure in numbers, but in words.”

The hidden decades

While reading Sacks’s books and articles, Burns noted that something was missing.

“From the ’80s on, I did not know anything about his life,” Burns said. “He was guarded until the very end. Openness was something he arrived at only at the very end.”

A still of Oliver Sacks from the Ric Burns documentary, ‘Oliver Sacks: His Own Life.’ (Courtesy)

Sacks had an earlier bout with melanoma in 2005. When it returned a decade later, the diagnosis was terminal.

Burns kept the camera on when Sacks announced the diagnosis to his inner circle.

“Here is a person coming to the end of his life, facing the inevitable, with the people around him who mean the most,” Burns said. “His boyfriend Billy, his longstanding writing partner Kate, his sister-in-law… He was intensely aware of who we were. And, you know, he wanted to talk about what matters in life.”

Here is a person coming to the end of his life, facing the inevitable, with the people around him who mean the most

Weeks before Sacks’s death, he penned an op-ed for The New York Times entitled “Sabbath,” in which he reflected upon his Jewish background, including family Shabbats, living on a kibbutz as a young man and returning to Israel with his partner decades later for the 100th birthday of a relative. He described an unexpectedly welcoming reception for both himself and Hayes, and mused on what might have happened had he stayed observant.

A still of Oliver Sacks from the Ric Burns documentary, ‘Oliver Sacks: His Own Life.’ (Courtesy)

“He lost his faith early on,” Burns said. “He was not going to be himself an Orthodox Jew. But the experience of it — Shabbat, the seder — and also the reverence for what was ultimately a world [where] mysteries could be possible, was never fully conquered and he carried within himself a profound sentiment, sort of a Judaism without the religious belief in a supreme being, but a deep sense of the holiness of existence.”

Calling Sacks’s Judaism “central and shaping,” he added that it was “intrinsically, of course, complex and a journey.”

“He was not a saint, but led a life in which he was always moving toward what he understood as the light,” Burns said. “[This] meant understanding and connection — how do I understand myself, how do I understand another human being, how do I make connection, how do I share that connection, how can I be honest?

18. August 2020

Ich staune immer, wieviele Autoren und noch mehr: wie viele zahlreiche Neuerscheinungen von wirklich lesenswerten Büchern in Israel immer weider erscheinen! Gerade höre ich in einer Buchbesprechung in der BZ von einem neuen Buch von David Grossmann, einem Buch, das ich noch nicht gelesen habe, das ich mir aber sofort (nach dieser Rezension)  bei Amazon bestelle und so rasch wie möglich auch lesen will:

Wie bedingungslose Liebe Leid bringt: David Grossman

Diese BZ-Rezension möchte ich hier publizieren: 

bzbasel.ch – 18. August 2020 05:00 Literatur

Wie bedingungslose Liebe Leid bringt: David Grossman erzählt von drei Generationen Frauen in Israel

In seinem neuen Buch «Was Nina wusste» erzählt David Grossman die reale Lebensgeschichte der kroatischen Kommunistin Eva PanicNahir zwischen Bohème, Armut und israelischem Kibbuz – und erfindet sie doch für sich neu.

von Valeria Heintges - CH Media

Sie haben alle reale Vorbilder: Vera, die Grossmutter, Nina, die Tochter, Gili, die Enkelin. Am Ende seines Buches «Was Nina wusste» dankt David Grossman Eva Panic-Nahir, der realen Vera. Mit ihr verband den preisgekrönten israelischen Schriftsteller eine jahrelange Freundschaft. Auch Evas Tochter Tiana Wages lernte der Autor kennen und bekam von beiden Frauen die Erlaubnis, ihre Lebensgeschichte in einem Roman zu verarbeiten. Doch legt Grossman grössten Wert darauf, dass er ihre Geschichte so erzählt, «wie sie niemals gewesen ist. Ich muss das, was existiert, selbst erfinden», sagte Grossman in einem Interview zu seinem neuen Buch.

In ihrem langen Leben liegt ein ganzes Jahrhundert

Panic-Nahirs langes Leben zwischen Reichtum und Armut, zwischen Bohème, Kommunismus, Gefangeneninsel und sozialistischem Leben im israelischen Kibbuz, zwischen Freiheit des Geistes und Gefangenschaft des Körpers ist so aussergewöhnlich, dass bereits mehrere Filme darüber gedreht und Biografien geschrieben wurden. Panic-Nahirs Handeln zeigt, wie Gewalt und Güte das Leben zeichnen, wie sehr aber auch bedingungslose, überwältigende Liebe Leid bringen kann.

Um zu vermeiden, dass ihr erster Mann Rade Panic als stalinistischer Spion und Verräter in Titos Jugoslawien denunziert wird, geht Eva Panic-Nahir ins Gefängnis und lässt dabei ihre sechsjährige Tochter zurück. Ihre Liebe zu ihrem Mann sei grösser als die zu ihrer Tochter, erklärte die reale Eva Panic-Nahir noch kurz vor ihrem Tod 2015. Tochter Tiana kämpft ein Leben lang mit sich, ihrer Mutter und der Vergangenheit, ehe sie diese Entscheidung akzeptieren und in Frieden mit ihrer Mutter leben kann.

Ein Roman wie ein Tanz, ein Tango vielleicht

In «Was Nina wusste» konzentriert sich Grossman ganz auf den innersten Kreis: Grossmutter Vera, Mutter Nina, Enkelin Gili. Und dazu erfindet er Raffael, den Sohn von Veras zweitem Ehemann. Raffael verliebt sich bereits im Alter von 16 Jahren unsterblich in die fast gleich alte Nina und wird ihr ein Leben lang zum sicheren Hafen, in den sie – nach langer Odyssee um die Welt – immer wieder zurückkehren kann. Gleichzeitig macht Grossman Enkelin Gili und Raffael zu Dokumentarfilmern. Aus der gemeinsamen Reise der vier in Evas Geburtsstadt Cakovec und auf die Gefangeneninsel Goli otok wollen sie einen Dokumentarfilm machen. Als Vorbereitung schaut Erzählerin Gili, deren Notizen als Skriptgirl letztlich den Roman ausmachen, alte Familienfilme an. Mit diesen kann sie auch ihren Notizen-Roman wie einen Film schneiden und vor und zurück durch Zeiten-, aber auch durch Gefühlsebenen springen.

Das Ergebnis ist ein Roman wie ein Tanz, ein Tango vielleicht. Mal unendlich langsam, mal rasend schnell bewegen sich die vier aufeinander zu und voneinander wieder weg. Formieren sich in wechselnden Formationen zu Dialogen, drehen aber auch in langen Monologen solo ihre Pirouetten. Sie haben viel zu bereden, sie haben viel zu lange geschwiegen. Nina kennt nur Schlaglichter aus der Vergangenheit ihrer Mutter, weiss fast nichts von der gemeinsamen Zeit ihrer Eltern. Sie erfährt erst jetzt, warum sie als Sechsjährige an einem Tag gleichzeitig Mutter und Vater verlor, bei der missgünstigen Schwester der Mutter aufwachsen musste und letztlich zum Strassenkind wurde.

Grossman zoomt auf die Gesichter der drei Frauen

Grossman erzählt das komplizierte Geschehen aus Vergangenheit und Gegenwart, aus grosser Welt- und kleiner Individualgeschichte, aus Gewalt und Liebe mit zuweilen minutiöser, auch filmischer Genauigkeit; immer wieder zoomt er sozusagen auf die Gesichter, zieht ihre Mimik und Gestik als Frontale in die Grösse. Dann wiederum fasst er zusammen und rafft das Geschehen von Jahren kurz zusammen, um später wieder seine Erzähler-Kamera schweifen zu lassen und das grosse Ganze einzufangen.

Das bildet die Spannung, die zwischen und jeweils in den vier Menschen steckt, perfekt ab und ergibt auch in der hervorragenden Übersetzung von Anne Birkenhauer eine Lesespannung, die den Leser schon bald atemlos weiterblättern lässt. «Was Nina wusste» ist nicht so komisch-brutal und so doppelbödig wie «Kommt ein Pferd in die Bar», nicht so berührend wie «Aus der Zeit fallen» und auch nicht mit Grossmans faszinierend-fulminantem Grosswerk «Eine Frau flieht vor einer Nachricht» zu vergleichen. Aber das zeigt nur einmal mehr, wie sehr es diesem Autor gelingt, sich und sein Schreiben mit jedem Buch neu zu erfinden.

David Grossman: Was Nina wusste. Roman. Übersetzt von Anna Birkenhauer. Hanser, 350 S.

25. Juni 2020

Deborah Feldmans Bücher über ihre Flucht aus der ultraorthodoxen Satmarer Sekte wurden berühmt und nun auch zu einer NetflixSerie verarbeitet. Ich habe ihre beiden Bücher mit Interesse gelesen, siehe unten. – Jetzt ist gerade ein Text von Pierre Heuman in der WELTWOCHE erschienen, den ich hier anfügen möchte:  

Die Weltwoche – 25. Juni 2020 Ausgaben-Nr. 26, Seite: 10 Anfang Kopf der Woche

Die erstaunliche Geschichte der Deborah Feldman  Von Pierre Heumann

Sie wagte die Flucht aus der Schwarzweiss-Welt der Ultraorthodoxen. Sex, Romantik, Israel und ihr säkulares Leben in Berlin: Die NetflixSerie über die Aussteigerin Deborah Feldman ist auch im arabischen Raum ein Hit.

Als sie 23 Jahre alt war, flüchtete sie aus der beklemmenden Enge ihrer ultraorthodoxen Welt in Brooklyn, New York. Ihre Familie wünschte ihr für den «Verrat» den Tod. Heute lebt die 33-jährige Deborah Feldman mit ihrem Sohn als säkulare Jüdin in Berlin und hat seit ihrem Teenager-Dasein in Brooklyn so viel erreicht, dass sie sagt: «Meine verbleibenden Wünsche sind jetzt relativ bescheiden, sehr bescheiden.»

Das klingt für eine Frau ihres Alters reichlich vermessen – wäre da nicht ihre erstaunliche und mutige Metamorphose von einer ultraorthodoxen New Yorkerin zur säkularen Berlinerin. In kurzer Zeit ist es ihr nicht nur gelungen, ihre Identität abzulegen, ohne sich dabei zu verleugnen. Sie publizierte auch zwei Welt-Bestseller, die jetzt Grundlage für eine erfolgreiche Netflix-Verfilmung geworden sind. Und sie hat sich in ihrer neuen Heimat Berlin im Nu so gut akklimatisiert, dass der jiddische Akzent ihrer Muttersprache nicht mehr zu hören ist.

Feldmans erstaunliche Befreiungsgeschichte aus der gesellschaftlichen, mentalen und religiösen Enge der Orthodoxie hat universelle Relevanz in einer Zeit, da Identitäten im Fluss sind, Menschen auf der Flucht und Frauen weltweit Wege aus der Unterdrückung suchen. Kein Wunder, ist die Netflix-Serie über die ultraorthodoxe Aussteigerin auch im arabischen Raum ein Hit.

Doch Feldman mahnt: «Man kann», so ihre Überzeugung, «die Identität nur bis zu einem bestimmten Ausmass ablegen. Am Ende des Tages ist man immer eine Mischung aus Gestern und Heute, trägt Vergangenheit und Gegenwart in sich.» Die Kunst bestehe darin, die Spannung zwischen den beiden Polen so zu kalibrieren, dass sie tragbar wird: «Nur so gelingt es, den Frieden mit sich selber zu finden.»

Werk des Teufels

Routiniert gibt sie Interviews im Dreissig-Minuten-Takt. Journalisten aus aller Welt rufen sie in diesen Tagen an, da ihr Buch in den nächsten Wochen in zwei Dutzend neuen Übersetzungen publiziert wird; nachdem es bereits in acht verschiedenen Sprachen, nicht nur auf Deutsch, erschienen ist, wird es demnächst auch auf Japanisch, Spanisch, Griechisch oder Rumänisch herausgegeben.

Ohne Scham spricht die Frau über Sex und Erotik, als ob sie nie in einer Gesellschaft gelebt hätte, in der das Individuum seine Träume nicht ausleben darf, spricht über ihre Sehnsucht nach Freiheit und, als wären ihr nie Rituale und Verhaltensweisen eingetrichtert worden, über den Stellenwert des Glaubens in ihrem neuen Leben. Sie sei nicht religiös, aber gläubig. «Die Religion ist für mich ähnlich wie die Politik», sagt sie: «Man kann sich entscheiden, wo man hingehört. Mit Glauben hat das aber wenig zu tun.»

Feldman wuchs in der Satmar-Gemeinde von Brooklyn auf, die zur Gruppe der Chassidim gehört, einem mystischen Zweig der Ultraorthodoxie, der aus rund einem Dutzend Sekten besteht, die ihren jeweiligen Rabbi verehren und auf ihn – nur auf ihn – hören. Die Welt ihrer Kindheit bestand aus Männern, die schwarze Hüte trugen, schwarze Kaftane und weisse Hemden, die die alten Schriften studierten, aus schwarzweissen Büchern beteten und überzeugt waren, dass grelle Farben wie Rot das Werk des Teufels seien.

Die Satmar-Gemeinde – sie ist nach ihrem Entstehungsort benannt, der damals im Königreich Ungarn liegenden Stadt Szatmárnémeti, die heute Satu Mare heisst und zu Rumänien gehört – wurde im Holocaust weitgehend vernichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg in Brooklyn neu aufgebaut.

Israel: Ankunft des «falschen Messias»

Der Schatten der Apokalypse war Teil ihrer Jugend. Die Grosseltern, die sie erzogen, glaubten an das Ende der Welt und bereiteten ihre Enkelin darauf vor. Die Satmar-Gründer seien überzeugt gewesen, dass die Shoah eine Strafe Gottes für die Assimilation der Juden und für den Zionismus war, sagt Feldman. Wer sich assimiliere, setze sich über das Gebot der Religion hinweg, warnen die Satmar-Rabbis bis heute, die in New York rund 350 000 Anhänger haben. Den Zionismus und damit die Gründung des Staates Israel vergleichen sie mit der Ankunft des «falschen Messias», der wie auch Israel abzulehnen sei. Die Satmar-Gemeinde, eine der radikalsten überhaupt, habe jüdische Gebetsrituale und Traditionen neu interpretiert und radikal ausgelegt. «Wenn man Gott zeigt, dass man sich für ihn anstrengt, wird er sich auch für uns sehr anstrengen, seinen Zorn zu zügeln», resümiert Feldman die Überzeugung ihrer ehemaligen Sekte. Der Holocaust habe gezeigt, dass man ohne Engagement für Gott «keine Chance hat zu überleben – so wird das von Satmar ausgelegt».

Weil Juden, fasst Feldman die Motive der Ultraorthodoxen zusammen, ersetzen müssten, was sie während des Zweiten Weltkriegs verloren hätten, seien die Familien verpflichtet, möglichst viele Kinder zu haben. Frauen sollen deshalb früh heiraten. «Ich war siebzehnjährig, als mir mein Grossvater Eli vorstellte, meinen künftigen Ehemann, einen jungen Religionsschüler mit goldenen Schläfenlocken und den Ansätzen eines Bartes.»

Das erste Treffen dauerte dreissig Minuten. Nach dem zweiten war die Hochzeit beschlossene Sache. Eine «Eheberaterin» zeigte ihr «den heiligen Platz der Frau». Feldman, der es zuvor nicht erlaubt gewesen war, sich unten zu betrachten, hatte keine Ahnung gehabt, dass sie eine Vagina hatte. «Und dann machte ich plötzlich die schockierende Erfahrung, dass sie zum Gebären bestimmt war.» Chassidische Frauen haben wenig Freiheit beim Entscheid, wann und wie viele Kinder sie bekommen wollen. Sie haben bereit zu sein für die Fortpflanzung und die Erziehung. Die ersten Sexerlebnisse seien «traumatische Erlebnisse» gewesen, ebenso wie sowohl von ihrer Familie als auch von den Gemeindemitgliedern mit Kritik und Klatsch konfrontiert zu sein, als sie nach neun Monaten noch nicht schwanger war.

Gespräche über Sex seien im ultraorthodoxen Judentum aus mehreren Gründen ein Tabu, sagt Feldman. «Sex fördert Individualität und Intimität. Das kann die Gemeinde nicht tolerieren, weil das den Zusammenhalt des Kollektivs gefährde. Sex wird von den Radikalfrommen mit allem assoziiert, was bei ihnen verpönt ist: Zuneigung, Liebe und Intimität. Ich bin deshalb nicht mit Umarmungen und Küsschen aufgewachsen, das gab es nicht.»

Entgegen allen Klischees will Feldman die Satmar-Gemeinde nicht als «patriarchalisch» bezeichnen: «Männer sind zwar für das Narrativ zuständig, aber Frauen füllen das Narrativ mit Leben und realisieren es.» Ihre Beweisführung ist stringent: «Weshalb waren die Männer immer über ihre Bücher gebeugt, während die Menschen, die mich unterdrückten, Frauen waren? Weshalb waren die Menschen, die mich am tiefsten verletzten, meine Tante, meine Schwiegermutter, meine Lehrerinnen und die Sextherapeutin?»

Nach ihrer Hochzeit habe sich ihr Männerbild bestätigt: «Eli war vollkommen im Griff seiner Mutter und erzählte ihr alle Details unseres Ehelebens, auch die intimen. Er brauchte ziemlich viel Zeit, um sich von seiner Mutter zu lösen.»

Als ihr Sohn schliesslich auf der Welt war, reifte in Feldman der Entschluss des Befreiungsschlags. «Wäre ich in der Gemeinde geblieben, hätte er täglich von neun bis fünf in die Religionsschule gehen müssen und hätte später keine Chance gehabt, seinen Weg frei zu bestimmen.»

Ein schwerer Verkehrsunfall, in den sie verwickelt war, gab ihr den letzten Ruck, um zusammen mit ihrem Sohn ein neues Leben zu beginnen. «Ich war nach dem Aufprall überzeugt, dass ich sterben würde», sagt sie, und sie schwor sich, fortan keine Minute ihres Lebens zu verschwenden. Tags darauf verkaufte sie ihren Schmuck, mietete ein Auto – und begann ein neues Dasein.

Faszination Berlin

Sie trennte sich von ihrer Gemeinde, später auch von ihrem Ehemann. Von der Familie erhielt sie Hass-Mails. Diese legte ihr nahe, Selbstmord zu begehen. Ihre Familie hatte, so Feldman in einem Interview, bereits ein Grab reserviert.

Die neue Existenz begann sie in Manhattan: ohne Familie, ohne Freunde, einsam und verarmt. Wie man sich in der modernen Welt zurechtfindet und seinen Lebensunterhalt verdient, musste sie erst lernen. Aber sie wusste: «Es gibt kein Zurück.» Feldman studierte Literatur an einem College und nahm Fahrstunden. Ihre Gedanken über die für sie neue Welt vertraute sie einem Tagebuch an, das den Weg in einen Verlag fand – und die junge Frau weltweit zur erfolgreichen Schriftstellerin machte.

Ob sie denn Israel als Ausgangspunkt ihres neuen Lebens nie in Betracht gezogen habe, frage ich sie. «Nie würde ich nach Israel auswandern», gibt sie dezidiert zurück. Sie sei ein paarmal als Touristin in Tel Aviv gewesen. «Dort stiess ich auf eine Realität, in der die Religiösen sehr viel Macht haben. Man kann ihrem Einfluss kaum entkommen. Ich will aber nicht in einem Land leben, in dem mich die Vergangenheit, der ich entflohen bin, wieder einholt.» Seit sechs Jahren lebt sie in Berlin, spricht so gut Deutsch, als wäre das immer schon ihre Muttersprache gewesen. Berlin, schwärmt sie, sei für sie ideal, weil hier jeder irgendwie ohne Wurzeln sei: «Es gibt keine festgefahrenen Strukturen, die man durchbrechen muss, um dazuzugehören.» Und der Antisemitismus? «Klar gibt es den. Aber für jedes negative Erlebnis habe ich deren zehn mit einer solidarischen Erfahrung.»

Derzeit arbeitet sie an einem Roman über eine moderne Prophetin, die alte Strukturen in ihrer ultraorthodoxen Gemeinde aufbrechen und einem neuen Denken zum Durchbruch verhelfen will. Die Hauptfigur könnte ihre Doppelgängerin sein. «Die kämpferische Richterin Debora aus der Bibel», sagt sie einmal fast beiläufig im Verlauf des Gesprächs, «trägt ja denselben Namen wie ich.»

Deborah Feldman: Unorthodox. BTB. 400 S., Fr. 15.90

«Der heilige Platz der Frau»: Bestseller-Autorin Feldman.

4. Mai 2020

Das folgende Buch, das mir von unseren Freunden E. und P. empfohlen wurde, hat mir «gut» getan. Es ist ein Buch, das etwas anders ist, als durchschnittliche Bücher, geschrieben von einer Ärztin, die selber mit einer Krankheit zu kämpfen hatte und sich als Psychotherapeutin auf eine sehr sensible Art bei Ihren Patienten eingab.

«Aus Liebe zum Leben» - Geschichten, die der Seele gut tun.

Von Rachel Naomi Remen

Diese Geschichten von Rachel Naomi Remen sind Spiegelbilder ihrer ärztlichen und psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen v.a. in sehr ausweglosen Situationen, teilweise am Ende ihres Lebens, die an einer unheilbaren Krankheit leidend.

Amazon beschreibt den Inhalt folgendermassen:

Durch ihre vitale, heilende Kraft offenbaren uns die Geschichten von "Aus Liebe zum Leben" Rachel Naomi Remen nicht nur als eine der großen Geschichtenerzählerinnen unserer Zeit, sondern vor allem als eine Heilerin des Herzens.

Was auch immer Rachel Naomi Remen am "Küchentisch des Lebens" ausbreitet, es gebietet uns, innezuhalten, nachzudenken und zu staunen. Es sind die alltäglichen, oftmals sogar unbemerkten Segnungen, um die sich Remens Erzählungen ranken - jene Wohltaten, die in einer Geste, einem Wort oder einer unvermuteten Tat ins Leben treten können.

Remen erinnert uns daran, daß hinter allen Geschichten eine Geschichte steht. Diese eine große Geschichte handelt von unserer wahren Identität, davon, wer wir sind, warum wir hier sind und was uns trägt.

So ist jede Geschichte ein überzeugendes Plädoyer für das Leben." (Amazon)

Die Autorin kommt immer wieder auf ihre Begegnungen mit ihrem Grossvater, einem Rabbiner, zurück, der in ihrer Frühkindheit eine grosse Rolle spielte und sie immer wieder liebevoll in Gesprächen auf die wirklich wichtigen Punkte in diesem Leben anleitete (er nannte sie «Neshume-le», mein Seelchen). Ich empfand diese «Geschichten», Lebensgeschichten, beim Lesen auf eine Art von Meditation.  Ich fühlte mich jeweils direkt involviert in die beschriebenen Situationen, hatte sogar den Eindruck, miteinbezogen zu sein. Die Autorin benutzt in ihren Ausführungen wiederholend die Tätigkeit des «segnen», eine Bezeichnung, die ich immer wieder für mich neu übersetzen musste. Es mag sein, dass das englische Original «to bless» im Amerikanischen eine etwas andere Aussage beinhaltet, als das «segnen» im Deutschen hat. Ich konnte mich aber im Laufe des Lesens mit diesem Ausdruck, der anfangs für mich etwas frömmlerisch wirkte, aussöhnen!

Rachel Naomi Remen teilt ihre «Lebensgeschichten» in sechs Kapiteln mit den folgenden Überschriften ein: Gesegnet werden/Zum Segen werden/Stärke finden, Zuflucht nehmen/Das Gewebe der Segnungen/Sich mit dem leben anfreunden/Die Wiederherstellung der Welt.

Ich kann dieses Buch jedermann, der sich für die Feinheiten und den Sensibilitäten des Lebens und den zwischenmenschlichen Beziehungen offen zeigt, wärmstens empfehlen. Remens Ausführungen tun … der Seele wirklich gut (wie der Nachsatz im Titel sagt)!

10. April 2020

Ich mache hier etwas, was ich bisher noch nicht getan habe: eine Buchbesprechung über ein Buch, das ich noch nicht gelesen habe. Diese Buchbesprechung lese ich in der WOZ, einer linken Zürcher Zeitung, die eigentlich nichts übrig hat für Israel, die ich als antizionistisch (=antisemitisch) bezeichne, und mit der ich generell grosse Mühe habe! Aber die Rezensorin, Ulrike Baureithel, schreibt über das neueste Buch von Nir Baram (Wunder aus der Asche der Kindheit) derart begeistert, engagiert und – so wirkt es auf mich – derart betroffen und differenziert, dass ich dieses Buch einfach auch lesen muss. Ich habe es soeben bei Amazon bestellt! Hier die Buchbesprechung von Ulrike Baureithel:

Nir Baram: «Erwachen». Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch. Hanser Verlag. München 2020.

Die Wochenzeitung – 09. April 2020 Ausgaben-Nr. 15, Seite: 18 Kultur / Wissen Nir Baram Wunder aus der Asche der Kindheit

Pubertätsrituale, Rassismus und Verrat: Nir Baram erzählt in «Erwachen» vom Israel der achtziger Jahre. In seinem persönlichsten Buch wirft der politische Autor einmal mehr einen scharfen Blick auf die innerisraelischen Verhältnisse. Ulrike Baureithel

Von Ulrike Baureithel

Das Trockental, ein Wadi, verläuft östlich von Jerusalem durch die Wüste bis nach Jericho. Davon getrennt wird das gelbe Haus, in dem der zwölfjährige Jonathan lebt, nur durch eine Strasse. Ende der achtziger Jahre ist es noch ein düsterer, geheimnisvoller Ort, begrenzt vom Wald, der Militärfabrik und den «Hohen Türmen», wo die Kinder wohnen, mit denen die Halbwüchsigen von Beit Hakerem verfeindet sind. In diesem Quartier haben sich Beamte, Dozenten, Politiker und andere, damals noch sozialistisch gestimmte Intellektuelle niedergelassen, deren Macht «nichts mit Geld zu tun» hat und die sorgsam darauf achten, dass keines der Kinder «aussergewöhnlich» ist.

Doch Jonathan und sein Freund Joël, die sich durch ihre älteren Brüder von der ersten Klasse an kennen, sind aussergewöhnlich, auch wenn sie nicht wirklich wissen, was sie zusammenhält. Aber was immer Jonathan «allein tut, es existiert nicht, bis Joël mitmacht». Eingesponnen in eine Welt der Abenteuerbücher, eines erfundenen «Königreichs», dessen Schicksal sie auf Zetteln choreografieren, und der Kämpfe mit den Altersgenossen von den «Hohen Türmen», haben sie sich im Wadi einen exterritorialen Ort geschaffen – ein geheimes Rückzugsgebiet.

Massvolle Freundlichkeit

Mit «Erwachen» legt der 1976 in Jerusalem geborene Schriftsteller Nir Baram sein persönlichstes Buch vor, auch wenn er betont, dass man seinen neuen Roman nicht allzu autobiografisch lesen solle. Doch immerhin verweist nicht nur dessen Schauplatz auf Biografisches, auch der Krebstod der Mutter, das schwierige Brüderverhältnis oder der Suizid des besten Freundes sind darin verarbeitet. Im Vergleich zum Roman «Gute Leute» (2012), in dem es um den Opportunismus zweier Intellektueller geht, die für die Nazis beziehungsweise für Stalins Geheimpolizei arbeiten, oder zu «Weltschatten» (2016), einer weltumspannend angelegten Geschichte über die Folgen der Globalisierung, kommt «Erwachen» viel intimer und psychologisch tiefschürfender daher.

Jonathans Stellung in der Familie ist kompliziert: Zu Schaul, dem älteren Bruder, fühlt er sich zwar hingezogen, doch der Ältere verfügt über unteilbare Erinnerungen an eine glücklichere Zeit, als er mit den Eltern noch alleine in New York gelebt hat. So ist Schaul auch ein Stachel im Fleisch von Jonathan, der sich von seiner Mutter abgelehnt fühlt und sich als Jugendlicher dem Vater entfremdet, nachdem die Mutter Mitte der neunziger Jahre unheilbar erkrankt. Unter ihrer «massvollen Freundlichkeit» verbirgt sie «unterdrückten Groll» gegenüber dem jüngeren Sohn, der sich an keine Regeln hält: «Papa ist enttäuscht, weil kein guter Wille bei dir anschlägt», wirft sie ihm vor. Neid und jugendliche Eifersucht, unterdrückte oder verkannte Gefühle, Kränkungen und vor allem Scham und Schuld: Das Karussell der Gefühle, die den Heranwachsenden umtreiben, ist so undurchdringlich wie die Dornen und der gelbe Nebel im Wadi, durch den Joël von den Kindern aus den «Hohen Türmen» geschleift wird, alleingelassen von seinem Freund.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des erwachsenen, verheirateten Schriftstellers Jonathan, der sich weit weg von Jerusalem auf einer Literaturtagung in Mexiko befindet und seine Kindheit und Jugend im Rückblick und auf mehreren, ziemlich verschachtelten Zeitebenen entrollt. Zu Hause sitzen seine Frau Schani, eine Gespielin aus seiner Kindheit, und sein kleiner Sohn, doch er «konnte denen, die er liebte, nicht helfen». Erst nach und nach entfaltet sich das Drama einer symbiotischen Freundschaft und des Verrats: «Wie konntest du mich nur damals in dem gelben Nebel ins Gras beissen lassen?», fragt Joël, fast erwachsen, seinen Freund.

So wie sie sich selbst verändern, die Pubertätsrituale hinter sich lassen und sich allmählich entgleiten, verändert sich auch das Gesicht Beit Hakerems, selbst das furchterregende Wadi verliert Reiz und Schrecken. Durch die einstige Wildnis fahren inzwischen Autos über Betonpisten, unter denen auch die sozialistische Grundhaltung der BewohnerInnen verschwindet.

Die Luft abgedreht

Nir Baram, Sohn eines Ministers im Kabinett von Jitzhak Rabin und einer Mutter, die für Schimon Peres gearbeitet hat, ist ein viel zu politischer Autor, als dass er seinen Roman auf persönliche Konflikte beschränken würde. Wenn vielleicht auch nicht so thesenhaft wie in «Weltschatten» oder unmittelbar Stellung nehmend wie in «Land der Verzweiflung» (2016), wo er über seine Reisen in die besetzten Gebiete berichtet, ist auch in diesem neuen Roman sein scharfer Blick auf die innerisraelischen Verhältnisse gerichtet, meist eher beiläufig, aber kaum zu überlesen.

Das betrifft keineswegs nur die feinen Unterschiede, mittels derer sich die BewohnerInnen in Beit Hakerem voneinander abgrenzen, die älteren mit ihren Autos, Jonathan, indem er sich vom Bruder die Schuhe der angesagten Marke aus New York mitbringen lässt. Hofften die Jugendlichen anfangs noch auf eine Lockerung, die die politische Entspannungspolitik in der Rabin-Ära hätte mit sich bringen können, wird ihnen im Verlauf der Jahre bewusst, dass nicht nur die «Zeit ihrer Welt, hier am Ende der Strasse abgelaufen» ist, sie nehmen auch wahr, wie man «ihnen die Luft abgedreht hat», wie Joël sagt, «wie klein und abgeriegelt alles war und dass wir überhaupt nichts machen konnten».

Die «moralische Überlegenheit der sozialistischen Werte ihrer Eltern» wirkt so verblichen wie deren Kleidung von der israelischen Modekette Bagir: «weite geblümte Blusen in Winterfarben und bunte Kleider (…) keiner wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Gegenstand des Klatsches werden». In der noch halb spielerischen Hatz der Jugendlichen auf «die Araber» kündigt sich der Rassismus an, den Baram heute so beklagt. Er werde befördert durch die Art und Weise, «wie die israelische Regierung über die jüdische Erfahrung spricht und wie das Erziehungssystem sie vermittelt – grundsätzlich isoliert von allen universellen Erfahrungen», erklärte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2016. Solange Israel ein jüdischer Staat sei und keiner, in dem alle, die Israelis sein wollten, friedlich leben könnten, gebe es keine Lösung.

Lügengeschichten

Dieses Thema blitzt im Roman nur hie und da auf, pointierter sind die Stellen, die das Verhältnis von Erinnerung und erinnerndem Schreiben betreffen. «Du bringst aus der Asche unserer Kindheit Wunder hervor», bewundert Joël den Freund, um gleichzeitig zu ätzen, dass sich Kindheitserinnerungen gut verkauften. «Wenn du eine Geschichte erfunden hast», hat Jonathan bei seinen Lügengeschichten aber schon früh gelernt, «musst du sie auch verteidigen und zu Ende führen.»

Oft ruft Nir Baram dabei suggestive Bilder zur Beschreibung des kindlichen Gefühlsapparats auf, und auch wenn er die Maskenmetapher, die als Zeichen der Fremdheitserfahrung immer wieder herhalten muss, etwas zu Tode reitet: Am Ende findet er ein versöhnliches Bild, das Frieden schliesst mit den Erinnerungen, deren Gefangener Jonathan bleibt.

Nir Baram: «Erwachen». Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch. Hanser Verlag. München 2020. 346 Seiten. 39 Franken.

März/April 2020 - Die Corona-Virus-Pandemie-Zeit gibt viel Raum fürs Lesen!

Es ist in der Tat so, dass auch ich während der gegenwärtigen CORONA-VIRUS-PANDEMIE-Zeit mir sehr viel Zeit zum Lesen nehme. Der Berg der noch nicht gelesenen Bücher auf meinem Pult ist hoch. Und diesen (Pendenzen-) Berg möchte ich in dieser aussergewöhnlichen Zeit des „Eingesperrtseins“ tüchtig abbauen.

Ein besonders liebenswürdiges Buch, das ich bereits schon mehrmals in der Vergangenheit gelesen habe, und das mich immer wieder von neuem packt, ist die Geschichte zweiter alter Frauen in Alaska, die während einer schrecklichen Hungersnot von ihrem Stamm aus Überlebensgründen „zurückgelassen“ werden mussten und somit dem Tod ausgeliefert wurden.

Zwei alte Frauen.

Eine Legende von Verrat und Tapferkeit, von Velma Wallis (1993)

Am Anfang dieses Buches geht die Verfasserin auf den Inhalt dieser aussergewöhnlichen Geschichte ein:

„In einem strengen Winter hoch oben im Norden Alaskas wird ein Nomadenstamm der Athabasken von einer Hungersnot heimgesucht. Das Verlassen des Winterlagers und die Suche nach neuer Nahrung soll einen Ausweg bieten. Wie es das Stammesgesetz vorsieht, beschliesst der Häuptling, zwei alte Frauen als unnütze Esser zurückzulassen. Keiner wagt es, dagegen aufzubegehren. Nicht einmal die Tochter der einen, auch sie muss sich bestürzt dem Beschluss beugen.

Als die beiden Frauen allein und verlassen in der Wildnis auf sich gestellt sind, geschieht das Erstaunliche: Statt aufzugeben, finden sie den Willen und den Mut, sich der Herausforderung zu stellen. Der anfängliche Zorn weicht dem puren Willen zu überleben. Nach und nach erinnern sie sich der Fähigkeiten, die sie früher einmal besessen hatten, die sie aber im Laufe der Jahre vergassen, da die Jüngeren die Nahrungsbeschaffung übernahmen.

Diese Legende von Verrat und Mut wurde von Generation zu Generation (mündlich) überliefert, und auch Velma Wallis hat sie von ihrer Mutter erzählt bekommen.“

Diese „alte Frauen“ nahmen ihr Schicksal in die eigene Hand, rafften sich – allein gelassen – auf und kämpften gegen jede Unbill. Die Autorin Velma Wallis versteht es sehr gut, die Gefühle der riesigen Enttäuschung, dem Schrecken und der Angst vor dem Tod in Worte zu kleiden, zurückgelassen und dem sicheren Tod preisgegeben zu werden. Und was geschieht: diese beiden alten zähen Frauen schaffen es letzten Endes zu überleben. Aber nicht nur das: sie sind in der Lage sogar mit viel List und hartem Kampf gegen die harte Natur einen Vorrat an überlebensnötigen Lebensmitteln (getrocknete Fische, erlegte Hasen, Eichhörnchen und Bisamratten) anzulegen. Und nach mehr als einem Jahr begegnen sie wieder ihrem Stamm, der total ausgehungert und praktisch am Ende des Überlebens angelangt war. Jetzt wurden die Karten neu gemischt: die „alten Frauen“ konnten die Jüngeren ihrer Sippe mit diesen erbeuteten Lebensmitteln vor dem Tod retten.

Diese knorrigen alten Ladies sind mir während des Lesens so richtig ans Herz gewachsen. Ich habe mit ihnen während ihres Überlebenskampfes mitgefiebert, mitgelitten, mich aber auch bei der Überwindung aller Hindernisse riesig gefreut! Dieses Buch hat mir eine riesige Freude gemacht!

Noch etwas über die Autorin:

„Velma Wallis, 1960 als eines von dreizehn Kindern in Fort Yukon, Alaska, geboren wurde in den traditionellen Werten ihres athabaskischen Volkes erzogen. Nach dem Besuch der High-School zog sie in eine Trapperhütte und lebt dort sei zwölf Jahren allein mit ihrer Tochter wie ihre indianischen Vorfahren. Zwei alte Frauen ist ihr erstes Buch, das gleich nach seinem Erscheinen 1003 den „Western States Book Award“ erhielt. Eine Verfilmung soll noch folgen.“

Das Schicksal dieser zwei von ihrer Sippe abgeschriebenen „zwei alten Frauen“ hat mich zutiefst berührt. Wenn ich richtig verstanden habe, waren diese zwei alten Frauen damals in meinem heutigen Alter. Sind Menschen in diesem „reifen Alter“ wirklich „alt“, müssen sie wirklich abgeschrieben werden in Zeiten der Not und den Jüngeren Platz machen? Diese zwei alten Frauen haben eine klare Antwort gegeben, die auch für mich gilt. Alt ist man erst, wenn man sich selber „abschreibt“ und sich nicht mehr als nützliches Glied der Gesellschaft empfindet.

Dieses Buch muss gerade in der heutigen CORONA-VIRUS-PANDEMIE-Zeit gelesen werden!

Ein zweites Buch, das ich vor vielen Jahren einmal gelesen habe und den Inhalt in der Zwischenzeit fast gänzlich vergessen habe, nahm ich mir wieder vor und konnte damit in eine mir völlig fremde Welt des Untergrundes, der (jüdischen)  Partisanen und der Banden in Osteuropa zur Zeit des Zweiten Weltkrieges eintauchen:

Wann, wenn nicht jetzt? Von Primo Levi. (Roman)

In Osteuropa tobt der Zweite Weltkrieg. Und Primo Levi zeichnet verfolgte Menschen, die nach allen schrecklichen Erlebnissen und fürchterlichen Verfolgungen in den Untergrund tauchen.

Amazon beschreibt diese Geschichte wie folgt:

Auf der Suche nach einer neuen Heimat

»Daß wir Juden sind, versteht sich von selbst. Daß wir bewaffnet waren, können wir nicht leugnen ... Sagt, daß wir Partisanen sind.«

Irgendwo in den Wäldern von Weißrußland begegnen sich 1943 zwei versprengte Soldaten der Roten Armee. Beide haben ihre Einheit verloren, beide sind Juden, und so ziehen sie gemeinsam weiter. Eines Tages stoßen sie auf Blockhütten, in denen sich weitere Juden inmitten der verschneiten Sümpfe versteckt halten. Doch das Quartier wird von Deutschen entdeckt, und nur wenigen Männern und Frauen gelingt die Flucht.

Sie wandern weiter nach Westen, ein schlecht ausgerüsteter Haufen zwischen allen Fronten, eine jüdische Partisaneneinheit, die aussieht wie eine vagabundierende Banditenbande, von den Deutschen verfolgt, von Russen wie Polen beargwöhnt, geduldet, gemieden. »Wann, wenn nicht jetzt«, singen die Partisanen den Talmud zitierend, »sollen wir den Stein schleudern gegen Goliaths Stirn?«

Wer ist der Verfasser dieses aussergewöhnlichen Buches (in Wikipedia nachzulesen):

Primo Michele[1] Levi (* 31. Juli 1919 in Turin; † 11. April 1987 ebenda) war ein italienischer Schriftsteller und Chemiker. Er ist vor allem bekannt für sein Werk als Zeuge und Überlebender des Holocaust. In seinem autobiographischen Bericht Ist das ein Mensch? hat er seine Erfahrungen im KZ Auschwitz festgehalten. Er schrieb außerdem auch unter dem Pseudonym Damiano Malabaila.[2] Primo Levi selbst war nicht religiös, obwohl er großes Interesse an jüdischer Kultur und Tradition zeigte. Nach seinen grausamen Erfahrungen glaubte er nicht mehr an die Existenz eines Gottes.[1]

Frühe Jahre

Primo Levi wuchs in einer liberalen jüdischen Familie in Turin auf. Ab 1934 besuchte er das Liceo classico Massimo d’Azeglio, ein humanistisches Gymnasium, das zwar bekannt war für die antifaschistische Einstellung vieler seiner Lehrer, von denen die meisten jedoch bereits aus dem Schuldienst entfernt worden waren. 1937 schrieb sich Levi an der Universität Turin für das Fach Chemie ein. 1938 erließ die faschistische Regierung Italiens ein Rassengesetz, das es jüdischen Bürgern verbot, staatliche Schulen und Hochschulen zu besuchen. Dennoch schaffte es Levi 1941, sein Studium mit Auszeichnung zu beenden. Auf dem Abschlusszeugnis war jedoch der Vermerk „von jüdischer Rasse“ zu finden.

Zweiter Weltkrieg und Auschwitz

Im Herbst 1943, nach dem Waffenstillstand der Regierung Badoglio, der Befreiung des abgesetzten Mussolini durch die SS und der Errichtung eines faschistischen Reststaates in Norditalien, schloss sich Levi dem antifaschistischen Widerstand, der Resistenza, an. Mit einigen Kameraden versuchte er im Oktober, sich in den Bergen des Aosta-Tals einer Partisanengruppe der liberalen Bewegung „Giustizia e Libertà“ (Gerechtigkeit und Freiheit) anzuschließen. Dem italienischen Historiker Sergio Luzzatto zufolge war Levi während dieser Zeit an der Erschießung anderer Partisanen beteiligt, was Levi selbst in seiner Autobiografie als „hässliches Geheimnis“ erwähnt.[3] Aufgrund ihrer militärischen Unerfahrenheit wurden sie jedoch am 13. Dezember 1943 von faschistischen Milizen gefasst. Vor die Alternative gestellt, entweder als Partisan auf der Stelle erschossen oder als Jude deportiert zu werden, gab Levi seine jüdische Abstammung zu und wurde daraufhin in das speziell für Juden eingerichtete KZ Fossoli bei Modena verbracht. Am 22. Februar 1944 wurde Levi in einem Transport des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nach Auschwitz deportiert. Von den 650 Frauen, Männern und Kindern dieses Zuges, die am 26. Februar 1944 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion 95 Männer und 29 Frauen als Häftlinge registriert und ins Lager eingewiesen. Die übrigen 526 Menschen wurden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet.[4] Bei seiner Befreiung waren 630 Männer und Frauen, die mit ihm dorthin deportiert wurden, nicht mehr am Leben.[1]

Levi verbrachte als 24-jähriger Zwangsarbeiter für eine Fabrik der I. G. Farben, die synthetisches Gummi herstellte,[1] elf Monate in Auschwitz-Monowitz bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Da er als Chemiker in den Buna-Werken eingesetzt war, konnte er den schlimmsten Arbeitsbedingungen im Winter 1944/45 entgehen. Dennoch erkrankte er wenige Tage vor der Befreiung des Lagers an Scharlach und wurde in den sogenannten „Krankenbau“ verlegt, wo es allerdings zu dieser Zeit kaum noch ärztliche Pflege gab, so dass seine Überlebenschancen sehr gering waren.

Durch Glück – Teil dieses Glücks scheint die tiefe Freundschaft zu seinem Freund Lorenzo gewesen zu sein, den er in Gefangenschaft kennenlernte und dem er zeitlebens dankbar blieb[1] – und Zufall überstand er jedoch die Krankheit und entging durch sie den Todesmärschen der vor der Roten Armee flüchtenden SS-Schergen. Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Trotzdem konnte Levi erst am 19. Oktober nach Turin zurückkehren, nachdem er von seinen Befreiern auf eine wirre Reise in Zügen quer durch Mittel- und Osteuropa bis fast nach Minsk in Weißrussland geschickt worden war. Sofort nach seiner Rückkehr begann er, seine Erfahrungen in Auschwitz niederzuschreiben und ihnen literarisch Ausdruck zu verleihen. Der erste seiner beiden autobiographischen Berichte, Ist das ein Mensch?, erschien 1947, und 1963 folgte Die Atempause.

Über Lorenzo hielt Levi fest: „Lorenzo aber war ein Mensch. Seine Menschlichkeit war rein und unangetastet. Dank Lorenzo war es mir vergönnt, dass auch ich nicht vergaß, selbst noch Mensch zu sein... Ich glaube, dass ich es Lorenzo zu danken habe, wenn ich heute noch unter den Lebenden bin. Nicht so sehr wegen des materiellen Beistands, sondern weil er mich mit seiner Gegenwart, mit seiner stillen und einfachen Art, gut zu sein, dauernd daran erinnerte, dass noch eine gerechte Welt außerhalb der unseren existierte: Dinge und Menschen, die noch rein sind und intakt, nicht korrumpiert und nicht verroht, fern von Hass und Angst; etwas sehr schwer zu Definierendes, eine entfernte Möglichkeit des Guten, für die es sich immerhin lohnt, sein Leben zu bewahren.“[1][5]

Zurück in Italien, begann Primo Levi zunächst nur nebenbei als Schriftsteller tätig zu werden. Bis 1977 arbeitete er hauptberuflich wieder als Chemiker. Nach seinem Ausscheiden aus dem naturwissenschaftlichen Arbeitsleben widmete er sich ganz dem Schreiben. Noch während er lebte, erhielt er verschiedene Literaturpreise wie den Premio Strega und den Premio Campiello.[1] Am 11. April 1987 starb er durch einen Sturz in den Treppenschacht seines Wohnhauses. Auf Grund fehlender Beweise ist unklar, wie es zu diesem Sturz gekommen war. Einerseits wird vermutet, dass Levi den Freitod gewählt hat. Auf der anderen Seite legen Zeugenaussagen und Umstände nahe, dass es ein Unfall war, der durch Medikamente begünstigt wurde.[6]

Literarisches Schaffen

Sein autobiographischer Bericht Se questo è un uomo (1947, Ist das ein Mensch?), in dem er seine Erfahrungen in Auschwitz beschreibt und dem Zivilisationsbruch der gezielten Entmenschlichung der Opfer nachzuspüren versucht, wurde seit der Zweitausgabe 1958 weltweit bekannt.[7] In dem direkt anschließenden, ebenfalls autobiographischen Bericht La Tregua. (Die Atempause) schildert er die Odyssee seiner monatelangen Reise durch die Ukraine und Weißrussland bis zur Rückkehr nach Italien und seine Sicht auf ein vom Krieg zerstörtes Europa, das er auf dieser Reise durchquert hat.

Primo Levi bei der Lektüre (1960)

Autobiographisch ist auch die Sammlung von Kurzgeschichten Das periodische System, in dem er kunstvoll Episoden aus seinem Leben erzählt: Jedes der 21 Kapitel ist nach einem der chemischen Elemente benannt, dessen Eigenschaft er in Bezug zu einer Episode aus seinem Leben setzt. Das 1975 erschienene Buch wurde im Oktober 2006 vom Londoner Imperial College im Rahmen einer Publikumsabstimmung zum „besten populären Wissenschaftsbuch aller Zeiten“ gewählt.[8]

Eine Reihe von Erzählungen scheinen dagegen reine Fiktion zu sein, desgleichen die eher pikareske Geschichte eines weitgereisten Technikers in Der Ringschlüssel. Im umfangreichen Partisanenroman Wann, wenn nicht jetzt? werden historische Überlieferungen sehr frei adaptiert, aber auch diese Werke spiegeln mehr oder minder deutlich Erfahrungen und Episoden aus dem Leben des Autors.

In seinem letzten Buch, Die Untergegangenen und die Geretteten, das 1986 ein halbes Jahr vor seinem Tod erschienen ist, kehrt Primo Levi nach 40 Jahren noch einmal zu seiner prägenden Auschwitz-Erfahrung zurück und reflektiert in eindringlicher Weise über die Verdrängungen und Verzerrungen im Gedächtnis der Zeitzeugen, der Mörder wie auch der Inhaftierten, über die beklemmende „Grauzone“ zwischen Tätern und Opfern, über die „Scham“ derer, die das KZ durch Zufall und Glück überlebt haben, über den vielgestaltigen Terror im Lageralltag, über die besondere Situation der Intellektuellen in Auschwitz und insgesamt über die Notwendigkeit eines nicht erlahmenden Zeugnisablegens und Erinnerns an „das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit“.

Dabei betont er ausdrücklich (und hierauf bezieht sich die Unterscheidung zwischen den „Untergegangenen“ und den „Geretteten“ im Titel): „Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Das ist eine unbequeme Einsicht, die mir langsam bewußt geworden ist, während ich die Erinnerungen anderer las und meine eigenen nach einem Abstand von Jahren wiedergelesen habe. Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit; wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.“ Das Buch gilt als Primo Levis Vermächtnis, in dem er die Themen seines Lebens noch einmal bündig zusammenfasst. Am Ende zitiert und kommentiert er eine Reihe von Briefen, die er in den 60er-Jahren von deutschen Lesern seines Auschwitz-Buches erhalten hat: mehrheitlich Dokumente des verdrängten oder gespaltenen Schuldbewusstseins von Zeitgenossen des Holocaust.

(Wikipedia)

Es ging mir beim Lesen dieses mehr als spannenden Buches wie immer: Ich begann in der Welt dieser untergetauchten Partisanen zu leben, so zu fühlen, wie diese Menschen es taten und von Primo Levi so grossartig geschildert werden. Ich entwickelte beim lesen nicht nur eine völlige Identifikation, sondern ich fühlte auch eine Art Stolz und Bewunderung für diese jüdischen Menschen, die trotz aller Widrigkeiten sich nicht niederkriegen liessen und alles versuchten, um dem grausamen Feind Paroli zu bieten. Diese verschiedenen Menschen mit all ihren menschlichen Eigenheiten verhielten sich auch innerhalb ihrer Gruppe ganz individuell. Primo Levi zeigt uns hier in diesem Buch eine breite Fazette des Menschseins in aussergewöhnlichen Situationen.

Dieses Buch muss gelesen werden!

Anfang März 2020

Es gibt zwei Bücher, die ich soeben gelesen habe, die mich bewegt haben und die ich weiterempfehlen möchte:

Unsere Freunde Edith und Peter haben uns kürzlich besucht und als Geschenk mit Blumen ein ganz spezielles Buch geschenkt:

Ein Bild von Lydia

Von Lukas Hartmann

Dieses Buch wird (von einer Freundin, München) als „eine wahre Geschichte, erzählt aus der Sicht eines Dienstmädchens…“.

Beim Lesen dieses Buches über das tragische Leben von Lydia Welti-Escher fühlte ich mich in die Welt der schweizerischen Hocharistokratie des vorletzten Jahrhunderts versetzt, einer Welt, die mir eigentlich bis jetzt fremd war! Lydia Escher, die hier im Mittelpunkt steht, galt zu ihrer Zeit als „reichste Schweizerin“. Vermutlich gehörte sie auch in die Kategorie der „ganz traurigen Schweizerinnen“. Das Buch beginnt mit der Beerdigung von Lydia im Genfer Friedhof von Plainpalais. Lydia hat ihrem Leben selber ein Ende gesetzt!

 

Lydia, ich habe es erwähnt, wird aus der Sicht ihres Dienstmädchens Luise wahrgenommen und geschildert. Dieses von Lukas Hartmann erzählte „Bild von Lydia“ zeigt eine kluge, kunstbegeisterte, sensible, offenbar auch hübsche junge Frau. Sie ist die begüterte Tochter des „Eisenbahnkönigs“ Alfred Escher. Aber auch hier machte das viele (geerbte) Geld ihres Vaters sie nicht glücklich. Ihre arrangierte Ehe mit dem Bundesratssohn Welti ersetzte nicht ihre leidenschaftliche Liebe zu einem Künstler, mit dem sie durchbrannte. In jener patriarchalischen Zeit war so etwas nicht tragbar, es war ein Fanal. Diese Affäre wurde im damaligen Zürich zum Stadtgespräch. Der gehornte Ehemann, Bundesratssohn Welti, reagierte auch entsprechend wütend darauf: Der Geliebte, der Künstler Stauffer,  wurde zuerst in ein Irrenhaus gesteckt. Auch seine durchgebrannte Ehefrau, Lydia, wurde zur Scheidung gezwungen. Ihr Vermögen wurde grösstenteils dem Ehemann zugesprochen. Lydia lebte dann zurückgezogen in einer Villa in Genf, umsorgt von ihrem Dienstmädchen Luise. 

Um was geht es genau in diesem von Lukas Hartmann in Worte gekleideten Leben Lydia Escher? 

Buchbesprechung Uni Zürich, Schweizer Buchjahr: 

Ein Roman, der nur hält, was er verspricht

16. April 2018 / Olivia Meier

Die Escher-Festspiele im kommenden Jahr nähern sich: Lukas Hartmann widmet seinen jüngsten Roman der anderen Tochter Alfred Eschers.

Zürich im Sommer 1887. In der flirrenden Sommerhitze lässt sich die Frau porträtieren, die Lukas Hartmanns neuem Roman seinen Namen gibt: Lydia Welti-Escher, Tochter des berühmten Alfred Escher und Ehefrau von Bundesratssohn Emil Welti. Der Maler ist Karl Stauffer, ein alter Schulfreund Weltis, ein Künstler und Frauenheld. Ein Bild von Lydia beschreibt die letzten Jahre einer der reichsten Frauen der Schweiz im 19. Jahrhundert. Erzählt wird dies aus der Sicht des Dienstmädchens Luise, die sich im Verlauf des Romans zur Gesellschafterin und Vertrauten Lydias entwickelt. Über die Empfehlung einer Tante kommt Luise als Kammerjungfer zu Lydia und wird fortan Teil der Hausgesellschaft im Zürcher Anwesen Belvoir. Wie auch der Künstler Karl Stauffer malt uns Luise ein Bild von Lydia, während sie selbst erwachsen wird. Sie verfolgt, wie sich zwischen Lydia und Stauffer mehr als nur Freundschaft entwickelt, und hält loyal zu ihrer Dienstherrin, wohin es diese auch zieht.

Zum Autor

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern.

Escher ist nicht der erste «grosse Mann», der Hartmann Stoff für ein Buch geliefert hat. In «Pestalozzis Berg» schreibt er vom Leben des berühmten Schweizer Pädagogen Johann Pestalozzi. «Bis ans Ende der Meere» beruht auf dem Leben des britischen Seefahrers James Cook. Das literarische Aufarbeiten grosser Geschichtsmomente ist Hartmanns Spezialgebiet. Die Pest im 14. Jahrhundert in «Die Seuche», für das die Stadt Bern Hartmann 1993 den Buchpreis verlieh, die Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs im Roman «Der Konvoi» oder der Kalte Krieg im Roman «Auf beiden Seiten»; kaum ein Bulletpoint der Weltgeschichte, den Hartmann nicht verarbeitet.

Dass sich leicht Parallelen ziehen lassen zu früheren Werken, verwundert nicht. Es war Felix Stephan, der Hartmann in der Zeit einst vorwarf, seit Jahren denselben Roman zu schreiben. But why change a winning team? Hartmann hat mit seinen Büchern anhaltenden Erfolg, steht regelmässig auf der Schweizer Bestsellerliste und wird sogar, meist etwas spöttisch, als Schweizer Nationalschriftsteller gehandelt. Undenkbar also, dass sich ein anderer als Hartmann des Skandals um Lydia Escher annimmt – und dies pünktlich zum 200-Jahr-Jubiläum des «Eisenbahnkönigs» im nächsten Jahr.

Im Roman geht es aber weder um Escher, noch kommt seine Tochter direkt zu Wort. Hartmann verleiht seine Stimme der einfachen Luise. Einerseits gelingt es Hartmann so, Lydia zur Geheimnisvollen zu stilisieren, deren Beweggründe uns Aussenstehenden oft verborgen bleiben. Das erzeugt Spannung und entspricht ganz dem Titel: Es ist eben nur ein Bild von Lydia, das Luise uns präsentiert. Andererseits wird Lydia so auf einen goldenen Sockel gestellt und bleibt dem Leser fern. In ihrer Loyalität lässt Luise keine Kritik zu, diese wird nur von unbedeutenden Nebenfiguren geäussert, denen sofort über den Mund gefahren wird. Das Schicksal Lydias ist zwar tragisch, vermag aber auf diese Weise nicht aufzuwühlen. Ebenso unscharf bleibt Lydias Geliebter Stauffer. Seine Entwicklung vom selbstbewussten Lebemann zum depressiven Verlassenen erfolgt zu rasch, scheint widersprüchlich. Seine wahren Gefühle und Motive bleiben ungewiss.

Die Art und Weise, in der die Lebensgeschichten beider Frauen verwoben werden und sich gegenseitig beeinflussen, überzeugt dennoch. Auf der einen Seite Luise, die sich zu Beginn von ihrer neuen Dienstherrin beeindruckt zeigt und so das Bild einer typischen Grande Dame des 19. Jahrhunderts entwirft. Auf der anderen Seite Lydia, die, von ihrem Mann verlassen, von der Zürcher Gesellschaft ausgegrenzt, in ihrem Schicksal immer abhängiger wird von ihrer Kammerzofe und diese zu einer starken jungen Frau heranwachsen lässt.

Mit dem Schluss des Romans tut sich Hartmann sichtlich schwer. Lydias Schicksal ist historisch Interessierten bekannt und für Uninteressierte nimmt Hartmann es vorweg. Und für die, die es dann noch nicht begriffen haben, erwähnt Luise noch Lydias Vorliebe für Gottfried Kellers «Romeo und Julia auf dem Dorfe». Das Ende lässt dann aber zu lange auf sich warten. So lange, dass die aufgebaute Spannung und das kurzweilige Lesevergnügen, das bisher geboten wurde, etwas verlorengehen. Da hat Hartmann den richtigen Moment zum Aufhören verpasst.

Fazit: Hartmann tut das, was er kann – er schreibt einen gut recherchierten unterhaltenden Roman, der in anschaulicher Sprache flüssig zu lesen ist und Einblick gewährt in eine vergangene Zeit. Mehr aber auch nicht. Zu einseitig wird das Schicksal der unnahbaren Lydia Escher geschildert, zu wenig pointiert ist das voraussehbare Ende gestaltet.

Mich hat diese Geschichte von „Lydia“ persönlich sehr bewegt, Die Sicht, die Wahrnehmung ihres Dienstmmädchens Luise, die hier wiedergegeben wird, hat mich eingeholt. Beim Lesen hatte ich den Eindruck, dass ich Lydia persönlich begegnete und direkt mit ihrem traurigen Schicksal konfrontiert wurde.

Ich kann dieses Buch zum Lesen empfehlen.

 

Ein anderes Buch, das ich soeben fertiggelesen habe, ist ein Wälzer von mehr als 700 Seiten und entführte mich in die Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges. Es ist das erste Buch einer Trilogie von Ken Follet mit dem Titel

FALL OF GIANTS.

Der Autor bringt in diesen 750 Seiten langen Wälzer fünf Familien zusammen und führt den Leser durch die erschütternde und dramatische Zeit des Ersten Weltkrieges, der Russischen Revolution und des Kampfes für die Stimmberechtigung der Frauen in England.

Dieses Buch darf man ganz ruhig als „Geschichtsbuch“ bezeichnen. Allerdings versetzt uns der Autor Ken Follet in die Zeit der grossen politischen Ereignisse und verwebt die echten politischen Figuren mit fiktiven Personen wild auf einem Schachbrett der menschlichen Emotionen. Wir erfahren beim Lesen  alle Ebenen des ganz persönlichen sinnlichen Erlebens der Zeitgenossen:

Da ist einmal die Familie Williams in Wales, in ärmsten Verhältnissen lebend, im Bergwerk schuftend. Die Willams Familie wird verbunden in eine Romanze, aber auch Feindschaft,  mit den aristokratischen Fitzherberts, den Besitzern der Kohlenminen. Aber nicht nur das. Lady Maud Fitzherbert verliebt sich in den Deutschen Walter von Ulrich, einem Spion an der Deutschen Botschaft. Ihr Schicksal ist auch noch verwickelt in die Persönlichkeit Gus Dewar, einem ehrgeizigen jungen Mitarbeiter des US Präsidenten.

Dazu kommt noch die aufwühlende Geschichte von zwei elternlosen Brüdern in Russland: Grigori und Lev Peshkov. Der jüngere der beiden,, ein Frauenheld, kann noch kurz vor Beginn der russischen Revolution  auf einem Schiff nach Amerika entschwinden und sich dort eine Existenz aufbauen. Der andere, der ältere bleibt in Russland und bringt sich aktiv in die revolutionären Aufstände ein. Er heiratet die  verlassene, schwangere Partnerin seines jüngeren Bruders.

So, wie die politischen Ereignisse in dieser Zeit abliefen, so gestalten sich die menschlichen Schicksale. Ken Follet geht in zahlreiche Details auf das menschlich-allzu-menschliche Verhaltens seiner Protagonisten ein. Auch ihre sexuellen Eskapaden schildert er in vielen Farben.

Die Schilderungen in diesem Buch beleuchten das Menschsein der Protagonisten manchmal ganz schrill, kunterbunt. Der Leser wird in all die individuellen Situationen hineingerissen. Die Spannung zieht sich durch alle 750 Seiten und entlädt sich eigentlich nicht einmal am Ende. Eine Fortsetzung kommt dann im zweiten Buch dieser Triologie. Diesen zweiten Band habe ich soeben in Angriff genommen. Alle Personen vom ersten Band werden hier wieder aufgenommen und in einer neuen Zeit - nicht weniger dramatisch - weiter geschildert, nun in einer Periode der Zwischenkriegsperiode und – das ist der Mittelpunkt – während der schrecklichen Zeit des unmenschlichen Zweiten Weltkrieges.

Ich habe dieses Buch in englischer Originalsprache gelesen. Es wurde mir von M. empfohlen, und ich habe es nicht bereut, zu lesen. Ich kann es wärmstens weiterempfehlen.  

8. Januar 2020

Kürzlich verstarb in Tel Aviv Carlo Strenger, Professor, Publizist und Psychoanalytiker. Seit Jahren publizierte er in der NZZ Kolumnen, die sehr beachtet wurden.

Ich habe soeben eines seiner Bücher gelesen:

Diese verdammten liberalen Eliten – Wer sie sind und warum wir sie brauchen

Hier geht es um Strengers Vorstellung der «liberalen Kosmopoliten», zu denen er sich selber auch zählt. Ich muss gestehen, dass ich diese Bezeichnung «liberale Kosmompoliten» bis anhin eigentlich nicht kannte. Im hinteren Klappentext des Buches lese ich:

Wenn wir liberalen Kosmopoliten nicht den Mut und das Stehvermögen aufbringen, unseren Beitrag zur Verteidigung unserer freiheitlichen Werte zu leisten und auf eine erneute Wende der Geschichte hinzuarbeiten, werden wir auf lange Zeit überhaupt nicht mehr daran arbeiten können, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Gustav Seibt schreibt über «Abenteuer Freiheit»:

«Es hilf nicht, die Schuld immer bei den anderen zu suchen. Das ist die kühle pädagogische Auskunft Carlo Strengers. Sie verdiente durchaus ausführlichere Behandlung."

Amazon schreibt über dieses Buch das Folgende, das aus meiner Sicht recht gut den Inhalt widergibt:

„In der Debatte über den Aufstieg nationalistischer und illiberaler Parteien ist ein altes Gespenst wieder aufgetaucht – das Gespenst der liberalen Kosmopoliten: gut ausgebildete, international vernetzte Wissenschaftlerinnen, Journalisten oder Politikerinnen, die sich gegenseitig ihrer moralischen Überlegenheit versichern. Die Kluft zwischen Kosmopolitinnen und heimatverbundenen Kommunitaristen gilt als einer der zentralen Konflikte unserer Zeit.

Eine zutreffende Diagnose? Oder ist die Vorstellung von entwurzelten liberalen Eliten bloß ein Zerrbild? Der Psychoanalytiker und Publizist Carlo Strenger kennt diese Gruppe nur allzu gut: weil er selbst zu ihr gehört – und aus dem Alltag seiner therapeutischen Praxis. Anhand einschlägiger soziologischer Literatur verallgemeinert er seine Befunde. Ja, so die selbstkritische Einsicht, die liberalen Eliten sind oft zu arrogant. Und dennoch brauchen wir ihre Expertise. Strenger schließt mit einem doppelten Plädoyer: für mehr Bodenständigkeit unter den liberalen Kosmopolitinnen und eine liberal-kosmopolitische Grundausbildung für alle.“

 

Carlo Strenger votiert für eine liberale, freiheitliche, kosmopolitische Welt. Seine Voten sind nicht immer leicht verständlich aber letzten Endes klar in der Aussage. Ich habe dieses Buch einerseits eher mit Mühe aufgenommen, andererseits aber durch mehrmaliges Lesen der einzelnen Kapitel mehr und mehr verstanden, was er meint - so glaube ich mindestens! Und diese Sicht der Dinge kann ich auch akzezptieren.

Ich kann das Lesen dieses Buches (erschienen 2019) wärmstens empfehlen. Vor allem aber scheint es mir wichtig zu sein, sich mit Strengers Weltsicht auseinanderzusetzen.   

5. Januar 2020

Filme: Marriage Story – Joker – Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl

Ich liebe seit meiner Jugendtage, Kinofilme anzusehen und mich während der Vorführung richtig kindlich in das Filmgeschehen hinein zu versetzen. Das Filmerlebnis wirkt auf mich (gerade auch im heutigen Zeitalter des Fernsehens) ganz besonders stark, emotionell. Ich geniesse die Stimmung, das Rascheln des nachbarlichen Popcorns, die Reklamen. Die grosse Leinwand und die hervorragende Akustik usw. entführen mich jeweils bei den Filmgenüssen in eine ganz andere Welt.

Und in so eine Welt wurde ich kürzlich in Genf verführt. Zusammen mit dem lieben Marcio erlebte ich in einem Genfer Kino den Film

„Marriage Story“.

Rein zufällig gerieten wir in diesen Film, wir wollten uns einen anderen ansehen, der ausgebucht war. Und das war ein Glück. Dieser  Zufall war gut, den Film genossen wir zu zweit, und anschliessend in einem Altstadtrestaurant konnten wir darüber heiss diskutieren.

Um was geht es bei diesem Film, der sich um eine sozusagen Alltags-Scheidungs-Situation dreht:

Ich übernehme den Text aus Wikipedia, der klar und deutlich umschreibt, was sich hier in dieser Sache abspielt.

Marriage Story ist eine Tragikomödie von Noah Baumbach, die am 29. August 2019 im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig ihre Weltpremiere feierte und im gleichen Monat beim Toronto International Film Festival gezeigt wurde. Am 6. Dezember 2019 wurde der Film in das Programm von Netflix aufgenommen.

Die Handlung: Der Film beginnt in einer Eheberatung. Charlie ist ein erfolgreicher Off-Broadway-Theaterregisseur mit einer eigenen Theaterkompanie, seine Frau Nicole spielt in seiner aktuellen Inszenierung von 'Elektra die Hauptrolle. Sie haben einen gemeinsamen Sohn, den 8-jährigen Henry. Obwohl das gemeinsame Theaterstück an den Broadway wechseln soll, zieht es Nicole mit Henry zurück in ihre Heimatstadt Los Angeles, Sie will dort an einem TV-Piloten arbeiten. Charlie hofft, dass die Trennung nur temporär ist, aber Nicole möchte endlich einen eigenen Karriereweg verfolgen, wieder in der Nähe ihrer Mutter Sandra und ihrer Schwester Cassie wohnen und sich von Charlie scheiden lassen. Auf die Mediation kann sich Nicole nicht einlassen: sie weigert sich, die auf Wunsch des Mediators erstellte Liste der Dinge, die sie an ihrem Mann schätzt, laut vorzulesen.

Obwohl sie und Charlie vereinbart hatten, kooperativ und ohne Anwälte vorzugehen, konsultiert Nicole nach ihrer Ankunft in L.A. die hochkarätige Scheidungsanwältin Nora Fanshaw. Sie erzählt ihr, wie sie sich in Ihrer Ehe immer "kleiner" vorgekommen sei, weil sie ihre Bedürfnisse verdrängt und sich Charlie untergeordnet habe. Dies sei ihr beim Schauen einer George Harrison-Dokumentation aufgegangen – sie habe sich wie Georges Frau gefühlt, deren Namen kaum jemand kenne. Zwar habe Charlie auch viel Familienarbeit geleistet, sei aber letztlich ein Egomane und taub für ihre Bedürfnisse gewesen, vor allem für ihren Wunsch, den Wohnort New York zumindest für eine zeitlang gegen Los Angeles einzutauschen. Zudem habe sie den Verdacht, dass Charlie sie mit der Inspizientin des Theaters betrogen habe.

Als sich Charlie von der Arbeit an einer neuen Inszenierung freimacht und zu Halloween nach L.A. fliegt, überreicht ihm Nora mit Hilfe ihrer Schwester die Scheidungspapiere. Das Erstgespräch mit dem Erfolgsanwalt Jay Marotta, der ihm eine schmutzige und vor allem ungeheuer teure Schlacht voraussagt, ist desillusionierend. Auch im Verhältnis zu Henry tritt eine Entfremdung ein, der gemeinsame Halloween-Ausflug ist enttäuschend. Henry sagt zudem deutlich, dass er nicht nach New York zurückkehren will.

Charlie verdrängt die Scheidung und stürzt sich in New York in die Arbeit mit seiner Kompanie, die durch den Gewinn der MacArthur-Fellowship enormen Auftrieb bekommt. Von Nora ermahnt, dass er sich einen Anwalt suchen müsse, entscheidet er sich für den großväterlichen, aber etwas laschen Familienanwalt Bert Spitz, der ihm verspricht, das Verfahren möglichst human zu halten. Weil er sich davon bessere Chancen auf das Sorgerecht verspricht, sucht sich Charlie eine Wohnung in L.A., will aber den Plan von einer gemeinsamen Zukunft in New York nicht aufgeben. Bei einer abendlichen Übergabe von Henry scheint es eine zaghafte Wiederannäherung zu geben: Nicole schneidet Charlie wie gewohnt die Haare, zu dritt mühen sich Kind und Eltern ab, das defekte Gartentor zu schließen.

Obwohl Bert zu einem außergerichtlichen Vergleich und einem weitgehenden Sorgerechtsverzicht rät und auch schon fast alles ausgehandelt ist, entschließt sich Charlie, die erste Tranche seines MacArthur-Preisgelds in den Staranwalt Marotta zu investieren und mit ihm vor das Familiengericht zu ziehen. Dort versuchen die beiden Anwaltsteams, die Gegenseite mit Hilfe intimster Details in den Dreck zu ziehen. Unterdessen lassen Henrys Schulleistungen nach, er liest schlecht. Nicole besucht Charlie in seiner neuen Wohnung um gütlich nach Lösungen zu suchen, aber der Gesprächsversuch endet in Geschrei und Wut. Charlie schlägt ein Loch in die Zimmerwand, wünscht Nicole den Tod und bricht wimmernd vor ihr zusammen, woraufhin sie ihn tröstet. Flüsternd entschuldigen sie sich bei einander.

Nora brieft Nicole genau für den Inspektionsbesuch der Sorgerechtsgutachterin und stachelt sie zum Kampf an, indem sie Charlie als typischen Vertreter des Patriarchats zeichnet. Währenddessen hübscht Charlie die neue Wohnung für den Besuch der Gutachterin auf. Sein Versuch, sich als perfekter Vater zu präsentieren, geht aber auf groteske Weise schief. Am Arm blutend und halb ohnmächtig, liegt er danach auf dem Küchenboden.

Einige Zeit später ist die Scheidung ausgehandelt. Charlie hat die Forderung nach einem New Yorker Wohnsitz für die Familie fallengelassen. Nora hat aus Ehrgeiz seine Besuchszeit noch einmal etwas einschränken lassen, obwohl Nicole das gar nicht wollte. Auf einer Familienparty performt Nicole (zusammen mit Ihrer Mutter und ihrer Schwester) den Song "You Could Drive a Person Crazy". Danach sieht man Charlie, wie er vor seinen Kollegen in einer New Yorker Bar den Song "Being Alive" singt (beide Lieder stammen aus dem selben Musical: "Company" von Stephen Sondheim, das – scheiternde – Partnerschaft zum Thema hat).

Beim nächsten Halloween trifft Charlie in L.A. auf eine rundum zufriedene Nicole: Sie konnte bei Ihrer TV-Serie selbst Regie führen und ist für einen Emmy nominiert, zudem hat sie einen Freund. Charlie kündigt an, dass er für ein Jahr an der UCLA lehren und am CalArts inszenieren wird, also dauerhaft in der Stadt sein wird. Während sich alle für die Feier umziehen, beobachtet er Henry, wie er laut und relativ flüssig die handschriftliche Liste, die Nicole in der gescheiterten Ehetherapie über Charlie geschrieben hat, vorliest. Henry bittet Charlie, laut weiterzulesen, was dieser unter Tränen tut, im Hintergrund beobachtet von Nicole. Auf der Halloweenparty geht die Familie in Beatles-Kostümen (Nicole als John Lennon, Henry als George Harrison), Charlie hat ein Laken übergeworfen und stellt einen Geist dar. Am Abend erlaubt es Nicole, dass Charlie Henry mitnimmt, obwohl er als Betreuer gar nicht an der Reihe ist.

Scheidungen kommen heutzutage sehr öfters vor, schweizweit scheinen mehr als ein Drittel der Ehen früher oder später auseinander zu brechen. Leider ist es auch so, dass sich  viele der Scheidungen auf ganz schlimme Art abspielen, dass sehr öfters vor allem die darin involvierten Kinder viel zu leiden haben. Mir scheint, dass in dieser Scheidungs-Filmkomödie so ziemlich alle möglichen Scheidungsvarianten präsentiert werden. Was mich persönlich beim Erleben dieser Szenen betroffen gemacht hat, ist die Emotionalität, die die Schauspieler Scarlett Johansson und Adam Driver auslebten. – Diesen Film erlebte ich mit vollen, eigenen Emotionen und ich kann ihn wärmstens weiterempfehlen.

Der zweite Film, den ich zu Gemüte führte, lag Welten entfernt von Marriage Story. Auf diesen Film verwies mich ebenfalls "der liebe Marcio", allerdings auf eine eher zynische Art (der wird bei dir ein "Trauma" auslösen):

The Joker.

Diesen Film erlebte ich auf quälende Art, ich empfand die Handlung als abscheulich, abstossend, brutal. Und genauso scheint es gewollt zu sein. Um was geht es bei diesem Film (ich lasse Wikipedia ihn beschreiben):

Joker ist eine US-amerikanische Comicverfilmung von Todd Phillips aus dem Jahr 2019, basierend auf Figuren aus dem DC-Universum. Der Film erzählt die Ursprungsgeschichte von Arthur Fleck, dargestellt von Joaquin Phoenix, der unter dem Namen Joker später der notorische Gegenspieler von Batman wird.

Der Film feierte am 31. August 2019 im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig seine Weltpremiere, wo er mit dem Goldenen Löwen, dem Hauptpreis des Festivals, ausgezeichnet wurde. Joker wurde im September 2019 beim Toronto International Film Festival gezeigt und kam am 4. Oktober 2019 in die US-Kinos. Der deutsche Kinostart war am 10. Oktober 2019.

Handlung: Im Jahr 1981 in Gotham City: Der sensible Außenseiter Arthur Fleck lebt zusammen mit seiner Mutter Penny in einem schäbigen Apartment. Arthur, der seit seiner Kindheit selbst in unpassendsten Situationen aufgrund einer Krankheit anfängt, laut zu lachen, arbeitet als Partyclown, träumt aber von einer Karriere als Stand-up-Comedian. Sein großes Vorbild ist der Talkmaster Murray Franklin, der eine Late-Night-Show moderiert, in der Fleck gerne auftreten würde. In ihm sieht er eine Art Vaterfigur. Schon zu Beginn des Films wird angedeutet, dass Arthur schon des Öfteren Opfer von Spott und gewaltsamen Übergriffen gegen ihn wurde, weswegen sein Arbeitskollege Randall ihm, dem Waffenbesitz eigentlich verboten ist, unvermittelt einen Revolver und Patronen zusteckt, um sich zukünftig verteidigen zu können. Arthurs Mutter Penny schreibt immer wieder Briefe mit Hilfsgesuchen an den superreichen Investor Thomas Wayne, bei dem sie vor Jahrzehnten angestellt war, erhält jedoch nie eine Antwort.

Nach und nach verschlimmert sich Arthurs ohnehin verzwickte Lage. Zunächst verliert er seinen Job, weil er den Revolver zu einem Clownauftritt in einem Kinderkrankenhaus mitbringt. Der Sozialarbeiterin, über die er seine Medikamente bezieht, werden alle städtischen Mittel gestrichen. Als er in der U-Bahn sitzt, belästigen drei betrunkene Anzugträger eine Mitreisende. Arthur, noch im Clownskostüm, bekommt daraufhin einen zwanghaften Lachanfall, und die drei fangen an, ihn zu verspotten und zu verprügeln. Doch diesmal zieht Arthur seinen Revolver und erschießt die drei Männer. Nach der Flucht vom Tatort genießt Arthur die durch die Morde gewonnene Aufmerksamkeit und Beachtung. Als Thomas Wayne, bei dem die drei Erschossenen angestellt waren, sich in einem Fernsehinterview zu den Morden abfällig über „nicht-reiche“ Menschen äußert, deren Neid für die Morde verantwortlich sei, und diese missverständlich als Clowns bezeichnet, entsteht auf den Straßen eine Protestbewegung gegen das Establishment, deren Teilnehmer – als Tribut an den der Öffentlichkeit unbekannten Mörder und Verursacher der Proteste – Clownskostüme und -masken tragen.

In Gotham City regieren schon lange Rücksichtslosigkeit und Gewalt, durch einen Streik der Müllabfuhr versinkt die Stadt im Dreck. Thomas Wayne erklärt nun seine lange erwartete Kandidatur für das Bürgermeisteramt der Stadt und präsentiert sich als der Einzige, der Gotham aus dem Chaos retten kann.  

Als Arthur einen Brief seiner Mutter an Wayne öffnet, erfährt er, dass er selbst der Spross einer Liebesaffäre seiner Mutter mit ihrem damaligen Arbeitgeber Wayne ist. Er geht daraufhin zu Waynes Privatanwesen und trifft dort zunächst auf Waynes noch jungen Sohn Bruce. Wenig später kommt ein Wachmann – Alfred Pennyworth – dazu, dem er mitteilt, er sei der Sohn von Penny Fleck und wolle Thomas Wayne sprechen. Pennyworth erwidert ihm daraufhin, ob er denn nicht wisse, dass er von seiner Mutter adoptiert worden sei, Mrs. Fleck habe damals „eine Menge Papiere unterschrieben“.

Über seinen ehemaligen Arbeitgeber kommt Arthur ins Blickfeld der Polizei. Als zwei Ermittler Arthurs Wohnung aufsuchen und dort nur seine Mutter Penny vorfinden, kommt es zu einer Auseinandersetzung, an deren Ende Penny mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus kommt und in der Folge im Koma liegt. Parallel versucht sich Arthur weiter als Stand-Up-Comedian, doch ein Auftritt bei einer Talentschau wird zur Blamage. Zudem wird eine Aufnahme dieses Auftritts der Sendung von Murray Franklin zugespielt, wo er als erfolgloser „Joker“ der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Die Redaktion erhält jedoch viele positive Zuschauerreaktionen auf Arthur, so dass er für eine der nächsten Shows eingeladen wird. Arthur schleicht sich bei einer Wohltätigkeitsgala ein und stellt auf der Besuchertoilette Thomas Wayne zur Rede, er sei sein Sohn. Wayne wahrt zunächst die Fassung und geht nicht auf Arthur ein, entledigt sich seiner aber dann mit einem Faustschlag, nachdem Arthur wieder einen Lachanfall bekommt.

Arthur entwendet nun aus der Anstalt, in der seine Mutter während seiner Kindheit einsaß, deren Akte, welche die Version des Wachmanns offiziell belegt. Demnach sei sie in der Psychiatrie gelandet, nachdem sie zugelassen habe, dass ihr Lebensgefährte ihren Adoptivsohn misshandelt habe.

Arthur verliert zunehmend den Verstand. Er erstickt seine Mutter im Krankenhausbett mit einem Kissen und probt im Wohnzimmer seinen Auftritt bei Murray Franklin, einschließlich Selbstmord vor Live-Publikum. Er erhält Besuch von seinen Ex-Kollegen Gary und Randall, die ihm zum Tod seiner Mutter kondolieren. Randall möchte dabei aber auch dafür sorgen, dass Arthur bei der Befragung durch die Polizei nicht seine eigene Aussage konterkariert. Daraufhin ersticht Arthur Randall, während er Gary, der immer nett zu ihm gewesen ist, laufen lässt. Arthur macht sich anschließend auf den Weg zum Auftritt. Auf dem Weg versuchen ihn die beiden Ermittler aufzuhalten. Arthur flieht vor ihnen. Bei der Flucht treffen sie in einer U-Bahn auf eine größere Gruppe als Clowns kostümierter Demonstranten. Einer von ihnen wird von einem der Polizisten versehentlich erschossen. Beide werden im daraufhin beginnenden Aufruhr schwer verletzt, während Arthur entkommen kann. Beim Auftritt in Murray Franklins Show trägt Arthur seine fortan typische Erscheinung: rötlicher Anzug, grün gefärbtes Haar, Clownschminke im Gesicht. Er lässt sich als „Joker“ vorstellen, verhält sich affektiert und unangepasst und gibt zum Besten, er habe die drei Männer in der U-Bahn getötet und dass die Morde aus seiner Sicht niemanden interessiert hätten, wenn Leute wie er selbst dabei umgekommen wären. Franklin weiß nicht, ob er das für einen sehr schlechten Witz oder die Wahrheit halten soll und reagiert mit professionell höflicher Empörung. Daraufhin erschießt der Joker den Moderator.

In Gotham City ist dies das Signal für gewalttätige Aufstände der Clownmasken-Bewegung, was der Joker auf seinem Gefangenentransport durch die Stadt sichtlich genießt. Er kann von den Protestierenden aus dem Streifenwagen befreit werden, die ihn nun als ihren Helden feiern. Im Laufe der Unruhen werden auch Thomas und Martha Wayne in einer Seitenstraße von einem Protestierenden ermordet, ihr Sohn Bruce bleibt jedoch verschont.

Der Film endet mit einer Szene in einer Psychiatrie, wo Arthur seiner Psychiaterin erklärt, sie würde den Witz, der ihn gerade zum Lachen bringt, sowieso nicht verstehen. Anschließend verlässt er das Behandlungszimmer mit blutigen Schuhabdrücken und wird daraufhin von einem Pfleger gejagt.

Dieser Film hinterliess bei mir nicht gerade ein "Trauma", aber während gewissen Szenen musste ich schon ein bisschen auf meine Zähne beissen. Der Joker ist kein charmanter, kein liebenswürdiger Wellness-Film. Er ist brutal, zeigt äusserst scheussliche und blutige Handlungen. Manchmal empfand ich einzelne Szenen fast unerträglich. Und trotzdem muss ich sagen, dass es ein interessanter, diskussionswürdiger Film ist: Es ist die Darstellung eines Menschen mit schwersten psychischen Problemen, eines Menschen, der als schlimme Bedrohung seiner Mitmenschen lebt und eigentlich in Verwahrung gehörte. Die „Fachpersonen“, von der Sozialarbeiterin bis zum Psychiater, verhalten sich in diesem Film so, wie es eigentlich schlimmer, falscher gar nicht sein könnte. Der Film hinterliess bei mir noch längere Zeit eine Gänsehaut.

Ich kann diesen Film nur für Leute empfehlen, die sehr starke Nerven haben.

Und einen dritten Film sah ich mir mit Chedva an, an den ich eigentlich sehr grosse Erwartungen geknüpft hatte. Diese hohen Erwartungen wurden nicht ganz erfüllt:

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl.

Auch hier möchte ich inhaltlich Wikipedia zu Wort kommen lassen.

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist ein Roman von Judith Kerr, der 1971 in englischer Sprache veröffentlicht wurde (Originaltitel: When Hitler Stole Pink Rabbit). Die deutsche Übersetzung von Annemarie Böll erschien 1973. Das Kinder- und Jugendbuch mit autobiografischen Zügen galt lange Zeit als Standardwerk für den Schulunterricht zur Einführung in das Thema Anfänge des Dritten Reiches und Flüchtlingsproblematik. 1974 wurde der Roman mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis als „herausragendes Kinderbuch“ ausgezeichnet. Bis 2013 wurden in Deutschland 1,3 Millionen Exemplare des Buches verkauft.

Der Roman bildet den Auftakt einer Trilogie, in deren Verlauf Anna, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, zu einer erwachsenen Frau heranwächst. Die Trilogie beginnt im Jahr 1933 und endet in den 1950er-Jahren. Die Titel der Fortsetzungen lauten: Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen

When Hitler Stole Pink Rabbit (Ausgabe 2002, ohne die urheberrechtlich geschützte Titelzeichnung von J.K.)

Von Berlin nach Zürich. Der Roman beginnt in der Zeit vor der Reichstagswahl im März 1933. Anna ist neun Jahre alt und lebt mit ihrer jüdischen Familie in Berlin. Annas Vater ist ein bekannter Schriftsteller, der auch Artikel gegen Hitler und die NSDAP in Zeitungen und Magazinen veröffentlicht. Aus Sorge vor einer Machtübernahme Hitlers und einer damit einhergehenden Verhaftung flüchtet er, gewarnt durch einen Polizisten, nach Prag. Im Gegensatz dazu bleibt Onkel Julius, ein Freund der Familie, in Berlin.

Wenige Tage später, am Wochenende der Wahl, reisen Anna, ihre Mutter und ihr zwölfjähriger Bruder Max in die Schweiz, wo sie in Zürich auf Annas Vater treffen. Notgedrungen bleiben sie nach Hitlers Wahlsieg und der Konfiszierung ihres Eigentums – darunter auch Annas rosa Plüschkaninchen, das sie in Berlin zurückgelassen hat – in der Schweiz. Sie wohnen erst in einem der besten Hotels Zürichs; als das Geld knapp wird, ziehen sie um in einen Gasthof bei der Familie Zwirn, die drei Kinder hat: Franz, Trudi und Vreneli. Hier bekommen Anna und Max zum ersten Mal die antisemitische Einstellung von Landsleuten zu spüren: Den Kindern einer Urlauberfamilie aus München wird verboten, mit ihnen zu spielen oder zu sprechen, woraufhin auch die Kinder des Wirtes Partei ergreifen müssen.

Infolge der Bücherverbrennung, von der auch die Bücher des Vaters betroffen sind, und auf Grund des Umstands, dass die Schweizer Zeitungen vor allem an ihrer Neutralität interessiert sind, wird es für Annas Vater immer schwieriger, seine Artikel zu veröffentlichen und damit Geld zu verdienen. Auch die Tatsache, dass die Nazis einen Preis auf die Ergreifung von Annas Vater ausgesetzt haben, macht das Leben der Familie nicht einfacher. Aus Geldnot zieht die Familie weiter nach Paris, wo der Vater bessere Chancen für sich und die Familie sieht.

Weiter nach Paris und London. In Frankreich angekommen, muss sich die Familie den Problemen einer Flüchtlingsfamilie stellen: Sprachprobleme, Integrationsprobleme und auch hier das Problem des knappen Geldes. Artikel des Vaters in der Pariser Zeitung sorgen nur für ein mageres Einkommen. Mit Antisemitismus ist die Familie in Frankreich nicht konfrontiert; dafür aber werden die finanziellen Sorgen immer größer, zumal auch das Gastland von einer Wirtschaftskrise bedrängt ist. Wichtiger als die finanzielle Lage ist dem Vater allerdings die Freiheit – in Paris erfährt er, dass sein alter Freund Julius sich in Berlin nach zahlreichen Schikanen das Leben genommen hat –, und für Anna zählt nur, dass die Familie nicht getrennt wird.

Die Mutter allerdings, auf der die wirtschaftlichen Sorgen vor allem lasten, drängt zu einem Umzug nach England. Nach einer demütigenden Szene, in der die Concierge sich verächtlich über die Familie äußert, die ihre möblierte Mietwohnung nicht ganz pünktlich bezahlen kann, fordert sie eine Entscheidung. Zu Annas Entsetzen beschließen die Eltern, ihre Kinder für die Zeit des Übergangs bei den ebenfalls emigrierten Großeltern in Südfrankreich unterzubringen. Aber bevor diese Entscheidung in die Tat umgesetzt werden kann, trifft die Nachricht ein, dass eine englische Firma ein Filmmanuskript des Vaters kaufen will und ihm dafür 1.000 Pfund zahlt. Daraufhin kann die ganze Familie gemeinsam nach London fahren. In London angekommen, begrüßt Cousin Otto Anna und die anderen Familienmitglieder auf der Victoria Station.

Verfilmungen: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl wurde 1978 vom WDR für die ARD unter der Regie von Ilse Hofmann – zum Teil an Originalschauplätzen – verfilmt. Die Erstausstrahlung erfolgte am 25. Dezember 1978. In den Hauptrollen spielten Martin Benrath und Elisabeth Trissenaar die Eltern sowie Ariane Jeßulat und Alexander Rosenberg die Kinder Anna und Max, ferner Miriam Spoerri in einer weiteren Rolle.

2019 kam mit eine von der Sommerhaus Filmproduktion GmbH produzierte Neuproduktion in die Kinos. Regie führte Caroline Link, die mit Anna Brüggemann auch das Drehbuch verfasste. Die Rolle der Anna übernahm Riva Krymalowski.

Biographische Bezüge: Judith Kerr hat ihre eigene Familienkonstellation recht genau übernommen; aus ihrem Bruder Michael wurde Max, hinter dem berühmten Vater verbirgt sich Alfred Kerr und die in Berlin noch musizierende und von Haushalts- und Geldsorgen unberührte Mutter hat deutliche Ähnlichkeit mit ihrem Urbild Julia Weismann. Als Randfiguren treten eine Großtante Sarah, die in Paris als Witwe lebt, und die Großmutter mütterlicherseits auf. Über den Großvater wird nur gesagt, dass er im Gegensatz zum Vater der Familie nicht berühmt ist und deswegen ungehindert mit seinem ganzen Besitz emigrieren konnte. Die Realität dürfte für Robert Weismann anders ausgesehen haben. Hinter dem ungarischen Regisseur, der in England den Ankauf des Drehbuchs über Napoleons Mutter vorantreibt, verbirgt sich Alexander Korda. Das Urbild des Onkel Julius ist der Oscar-Wilde-Übersetzer Max Meyerfeld.[1]

Zwischen dem Brutalofilm The Joker und diesem Film liegen auch gewissermassen „Welten“. Dieser Film ist nett, liebenswürdig und beinhaltet auch einige interessante Passagen. Aber trotzdem riss mich dieser Film nicht vom Hocker. Es fehlte mir eindeutig an „echten Emotionen“, an mehr Bezug zur damaligen politischen Situation während des Zweiten Weltkrieges, des Nazi-Regimes. Der Film enttäuschte mich, ich hatte wesentlich mehr erwartet.

Diesen Film kann ich jedoch Jugendlichen empfehlen, die eine „schöne, liebe „ Geschichte“ aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges sehen und hören möchten.

2019 

18. Dezember 2019

Ich habe soeben eine Biografie gelesen,  die vor einigen Monaten frisch gedruckt wurde: 

JITZCHAK RABIN – Als Frieden noch möglich schien (eine Biografie)

Von Itamar Rabinovich 

Im Klappentext lese ich: "Rabins Leben und Wirken steht in der Geschichte Israels für weit mehr als die Oslo-Prozesse: Als Untergrundkämpfer in der vorstaatlichen Zeit, ranghoher Militär in der israelischen Armee, im diplomatischen Dienst sowie als Verteidigungsminister und zweifacher Ministerpräsident war er in allen Phasen des jungen Staates massgeblicher Akteur." 

Rabin galt eigentlich – jedenfalls aus meiner Sicht – nicht als (politische) Taube – eher ein realistischer Falke. Aber gerade nach dem Lesen von vielen weiteren Details über seine Persönlichkeit und v.a. sein politisches Handeln würde ich ihn als echten Realisten, politischen Pragmatiker charakterisieren. Und gerade weil er ganz pragmatisch mit den Palästinensern für eine friedliche gemeinsame Zukunft rund um die OSLO-Verträge arbeitete, musste er sein Leben lassen. Er wurde von einem fanatischen orthodoxen jungen Juden meuchlings ermordet. Bibi Netanyahu war – so denke ich nach dem Lesen dieser neuesten Rabin-Biografie – rund um diesen Meuchelmord nicht ganz unschulig!

Ich lese in dieser Rabin-Biografie von Itamar Rabinovich vor allem auch sehr viele ganz persönliche Fazetten dieses einzigartigen israelischen Politikers kennen: Rabin war kein Showman, er war schüchtern, nicht selten recht schwierig im Umgang mit seinen Mitmenschen. Eine bissige Feindschaft und Konkurrenz mit seinem politischen Zwilling Shimon Peres zieht sich auch durch die ganze politische Laufbahn Rabins.

Itamar Rabinovich, der mit Rabin teilweise sehr eng zusammenarbeitete, produzierte mit dieser neuerschienenen Biografie ein Buch, das gelesen werden muss. Jedermann, der sich mit der Geschichte und v.a. der Politik Israels beschäftigt, erhält hier Insiderinformationen, die wichtig sind. Ich empfehle, dieses Buch unbedingt zu lesen.

Zu dieser Bucherscheinung über Jzchak Rabin berichtet nun auch Alexandra Föderl-Schmid aus Tel Aviv:

Tages-Anzeiger – 07. März 2020 Seite: 42 Wochenende

Handschlag für ein wenig Hoffnung

Sachbuch Eine neue Biografie beschreibt Yitzhak Rabin als einen Politiker, für den ein Friede mit den Palästinensernnicht bloss eine Vision war. Seit seiner Ermordung haben sich die Fronten verhärtet.

Alexandra Föderl-Schmid

Vieles von dem, was Israel in diesen Tagen beschäftigt, war schon für Yitzhak Rabin ein zentrales Thema: die Siedler und die Schaffung eines palästinensischen Staates. Aber zu Lebzeiten Rabins war das, was im Untertitel der Biografie über Israels früheren Ministerpräsidenten angekündigt wird, tatsächlich eine Option: «als Frieden noch möglich schien».

Nach der Ermordung des Politikers Rabin durch den israelischen Extremisten Jigal Amir am 4. November 1995 gewann Benjamin Netanyahu die darauffolgende Wahl und wurde zum ersten Mal Regierungschef – ein Amt, das der Politiker des rechtsnationalen Likud mit Unterbrechungen inzwischen zwölf Jahre lang innehat. Nach der Ermordung Rabins und der Wahl Netanyahus «begann Israel, sich mit grossen Schritten von Rabins Weg zu entfernen», schreibt der Biograf Itamar Rabinovich.

Anekdoten und Analysen

Der Autor war unter Rabin israelischer Botschafter in Washington und an Friedensverhandlungen mit Syrien beteiligt, die Israel und die USA damals als vielversprechender einschätzten als den parallel begonnenen Oslo-Friedensprozess, der 1993 zu einem aufsehenerregenden Abkommen, aber nie zu einem Abschluss führte.

Diese persönliche Beteiligung des Autors an Verhandlungen ermöglicht interessante Einblicke. Rabinovich, der Präsident der Universität Tel Aviv war, Nahostgeschichte lehrte und nun das renommierte Israel Institute leitet, gelingt es, Anekdoten aus Rabins Leben mit nüchternen Analysen eines Wissenschaftlers zu vereinen.

Er verklärt Rabin nicht, sondern beschreibt anschaulich dessen Wandlung vom radikalen Untergrundkämpfer in Palästina zumSoldaten und schliesslich vom Diplomaten zum Politiker. Der Autor zeichnet nicht nur ein sympathisches Bild und schildert die negativen Seiten seiner Persönlichkeit, wie Rabins jähzornige Ausfälle und seine über Jahrzehnte sehr persönlich ausgetragenen Kämpfe mit Shimon Peres, seinem Rivalen in der Arbeitspartei.

«Das prägendste Erlebnis in Rabins Leben» war nach Einschätzung seines Biografen der Kampf um die Unabhängigkeit des 1948 ausgerufenen Staates Israel, die Rabin als Anführer der paramilitärischen Palmach erlebte. Danach war Rabin, trotz Differenzen mit Staatsgründer David Ben-Gurion, am Aufbau der Armee beteiligt. 1967 war Rabin als Generalstabschef der Armee für einen präventiven Krieg und setzte sich gegen den zögerlichen Ministerpräsidenten Levi Eshkol durch.

Im Sechstagekrieg eroberte Israel unter anderem die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem – Gebiete, die noch heute im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen. «Aus dem Rückblick erscheint der Triumph als sehr zweifelhafter Segen», schreibt Rabinovich.

Die israelischen Siedler, die damals begannen, sich im besetzten Westjordanland festzusetzen, bezeichnete Rabin 1976 als «eine der grössten Bedrohungen für den Staat Israel. Das ist keine Siedlerbewegung, das ist ein Krebsgeschwür im sozialen und demokratischen Gewebe Israels, eine Gruppierung, die das Gesetz in die eigenen Hände nimmt.» Diese Einschätzung erwies sich als richtig, die Siedlerbewegung errichtete illegal Aussenposten im besetzten Westjordanland, die aber nach und nach legalisiert wurden.

«Er war kein Blumenkind»

Inzwischen leben rund 500000 Israelis in 120 Siedlungen und zwei Millionen Palästinenser im Westjordanland. Es dauerte bis in die 90erJahre, ehe Rabin die PLO und damit Yassir Arafat offiziell als Gesprächspartner anerkannte. Als Verteidigungsminister liess er den 1987 ausgebrochenen Aufstand der Palästinenser, die erste Intifada, brutal niederschlagen. Der frühere amerikanische Aussenminister Henry Kissinger beschrieb Rabin nüchtern: «Yitzhak war kein Blumenkind».

Aber schliesslich reifte in Rabin die Einsicht, dass Israel aus strategischen Gründen Frieden mit den Palästinensern suchen müsse. Ihm sei es immer um Israels Sicherheitsinteressen gegangen, schreibt sein Biograf, diese seien «untrennbar verknüpft mit dem Streben nach Frieden». Rabin war zu schmerzhaften Zugeständnissen an die Araber bereit, auch um internationale Legitimität zu erlangen und die Staatsgrenzen Israels abzustecken, was bis heute nicht endgültig geschehen ist. Er führte auch 1994 den Friedensvertrag mit Jordanien herbei. Rabinovich weist darauf hin, dass in dessen erster Amtszeit als Ministerpräsident die Vorarbeiten für den 1979 unter Menachem Begin mit Ägypten abgeschlossenen Friedensvertrag geleistet worden seien.

Sein militärischer Hintergrund verschaffte Rabin in Israel Glaubwürdigkeit und Autorität. Er war kein charismatischer Anführer, aber er hat sich zum Staatsmann entwickelt durch seine Fähigkeit, eine Vision zu entwerfen und zu verfolgen.

Der Biograf gibt Netanyahu indirekt eine Mitschuld am Tod Rabins. Er habe sich von Mordaufrufen und Hetze nicht offen distanziert und diese salonfähig gemacht. Den Unterschied zwischen Rabin und Netanyahu beschreibt Rabinovich so: Rabin habe eine Politik gemacht, damit Israel nicht für immer mit dem Schwert leben müsse. Netanyahu dagegen habe am 20. Jahrestag der Ermordung Rabins erklärt: «Wir werden für immer mit dem Schwert leben.» Das Buch ist so ein Schlüssel zum besseren Verständnis von Israels Politik.

Itamar Rabinovich Jitzchak Rabin. Als Frieden noch möglich schien. Eine Biografie.

Aus dem Englischen von Heide Lutosch. Wallstein-Verlag, Göttingen 2019. 307 S., ca. 35 Fr.

17. Dezember 2019

Kürzlich wurde mir von einem Freund ein Buch (wohl eher ein "Büchlein" mit 66 Seiten Umfang) geschenkt, das mir ganz besondere Freude bereitete:

DANKBARKEIT - Oliver Sachs 

Die hier gesammelten Essays zu Dankbarkeit, Abschied und auch Verzeihen erstellte der bekannte Psychiater Oliver Sachs kurz vor seinem Tod, sozusagen im Angesichte seines baldigen physischen Endes.

Diese niedergeschriebenen "Gedanken" haben mich berührt aber auch ein sehr eindrückliches Gefühls des Verstehens eines Menschen, der das nahe Ende erwartet und gewissermassen einen Rückblick auf die gelebten Jahre seines verflossenen Lebens in Worte fasst.

Ich möchte Oliver Sachs selber das Wort zu diesen "Gedanken" geben, das im hinteren Klappentext zu lesen ist:

"Ich kann nicht behaupten, ohne Furcht zu sein. Doch mein vorherrschendes Gefühl ist das der Dankbarkeit. Ich habe geliebt und wurde geliebt, ich habe viel bekommen und ein wennig zurückgegeben; ich habe gelesen und ferne Länder bereist und gedacht und geschrieben... Vor allem aber war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer."

Das, was Oliver Sachs kurz vor seinem Tod ausführte, nämlich die tiefe Dankbarkeit über sein gelebtes Leben, das wünsche ich all denen, die hier mitlesen. Ich wünsche es nicht zuletzt auch mir selber! 

25. November 2019

Ich muss es gestehen: Obwohl ich in den letzten Monaten recht viele Bücher gelesen habe, habe ich es unterlassen, sie hier auf dieser Seite vorzustellen. Ich will dies nachholen, denn ich denke, dass das eine oder andere Buch auch für die Leser meiner Homepage von Interesse sein kann. Vielleicht kann ich durch die Präsentation des Gelesenen auch den/die einen oder anderen dazu motivieren, dieses  Buch auch zu lesen.

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin – von Thomas Meyer. 2019.

Der erste „Wolkenbruch“ von Thomas Meyer (Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse) war durchwegs ein Beststeller. Auch die Verfilmung stiess auf grossen, positiven Widerhall. Ich muss gestehen, dass der Film dieses etwas schrägen Wolkenbruch-Buches mir wesentlich besser gefallen hat als das Buch selber. Es schüttelte mich manchmal bei gewissen Szenen so richtig durch!

Bevor ich auf Thomas Meyers zweites Buch zu sprechen komme, möchte ich eine Zusammenfassung des ersten präsentieren – dies praktisch als Einführung zum zweiten Wolkenbruch-Buch!

"Der junger orthodoxe Jude Mordechai Wolkenbruch, kurz Motti, hat ein Problem: Die Frauen, die ihm seine MAME als Heiratskandidatinnen vorsetzt, sehen alle so aus wie sie. Ganz im Gegensatz zu Laura, seiner hübschen Mitstudentin an der Universität Zürich – doch die ist leider eine SCHIKSE: Sie trägt Hosen, hat einen wohlgeformten TUCHES, trinkt Gin Tonic und benutzt ungehörige Ausdrücke.

Zweifel befallen Motti: ist sein vorgezeichneter Weg wirklich der richtige für ihn? Sein Gehorsam gegenüber der MAME mit ihren verstörenden Methoden schwindet. Dafür wächst seine Leidenschaft für Laura. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Und Motti kann schon bald einen vorläufigen Schluss ziehen: Auch SCHIKSEN haben nicht alle Tassen im Schrank. „thomas Meyers Entwicklungsroman im Stile Woody Allens ist eine religiöse Emanzipationsgeschichte – mit zuverlässig witzigen Pointen“ Beate Tröger /Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Ich sehe das erste „Wolkenbruch-Buch“ inhaltlich als ein Beispiel einer „religiösen und auch sozialen Emanzipation eines jungen, sehr orthodoxen Mannes von seiner ultrareligiösen Umgebung".

Beim zweiten Buch scheint mir – neben Mottis bewegten weiteren schrägen  Abenteuern das Hauptthema der "existierende Antisemitismus" zu sein, der von Thomas Meyer auf eine originelle Weise aufs Korn genommen wird. Meyer sagt diesem üblen Antijudaismus auf seine ganz spezielle Art mit viel Witz und eingestreuter Erotik  den Kampf an. In seinen Ausführungen geht es nicht selten sehr derb und direkt zur Sache. Es gibt in Sachen Sexualität eigentlich kein Tabu! 

Amazon beschreibt den Inhalt dieses Buches wie folgt:

Nach dem Bruch mit seiner frommen jüdischen Familie wird Motti Wolkenbruch von Schicksalsgenossen (in Israel) aufgenommen. Wie sich bald zeigt, haben die aber weit mehr als nur gegenseitige Unterstützung im Sinn: Sie trachten nach der Weltherrschaft. Bisher allerdings völlig erfolglos. Erst als Motti das Steuer übernimmt, geht es vorwärts. Doch eine Gruppe von Nazis hat das gleiche Ziel – und eine gefährlich attraktive Agentin in petto.

Ich habe dieses Wolkenbruch-Buch mit Freude gelesen und dabei  auchviel gelacht!  Allerdings wird dieses neue Wolkenbruch-Buch bei mir nicht allzugrosse Spuren hinterlassen!

8. Mai 2019

Ich bin nach wie vor ein passionierter Bücherleser, tagtäglich! In den letzten Monaten kam ich aus Zeitgründen leider nie dazu,  über die gelesenen Bücher hier in diesem Forum zu berichten. Ich möchte es nachholen.

„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ von Joel Dicker.

Dieses Buch wurde uns zum Mutter-/Vatertag geschenkt. Über Joel Dicker las ich kürzlich ein Interview im TACHLES. Dieser junge Autor, der viel von sich reden macht und seine Bücher zu Bestsellern wurden, fasziniert mich als Mensch.

Dieses Buch habe ich mit grossen Erwartungen in Angriff genommen … und praktisch innerhalb weniger Tage durchgelesen. Die 666 Seiten beherbergen eine ganze Reihe von scheusslichen Mordfällen. Rund um diese Gewalttaten versteht es Dicker aber, die damit verwickelten Persönlichkeiten auf der Täter- und Opferseite sehr plastisch zu schildern. Obwohl die vielen immer wieder auftauchenden Mordtaten etwas inflationär sind, bleibt die Spannung – wer jeweils der Täter sein könnte – bis zuletzt. Allerdings bewegt sich dann der letzte Mord auf sehr oberflächlicher Ebene. Der Mörder, der sich schriftlich seiner Frau mit seiner Tat outen möchte, wird zum Krimiautor. Seine Frau sieht ihren Mann als Autor eines Krimis, der dann veröffentlicht wird und Millionenauflagen erschwingt. Das ist – aus meiner Sicht – etwas billig. Vermutlich wollte Dicker nach mehr als 600 Seiten sein Buch (endlich) zu einem Abschluss bringen. – Aber nichtsdestotrotz machten mir diese turbulenten Schilderungen rund um einen mehr als 20 Jahre zurückliegenden Mordfall im Staat New York in der kleinen Stadt Orphea  grossen Spass. 

Zum Inhalt schreibt die AMAZON Empfehlung das Folgende:  Joël Dicker ist zurück – so intensiv, stimmungsvoll und packend wie »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert«.--- Es ist der 30. Juli 1994 in Orphea, ein warmer Sommerabend an der amerikanischen Ostküste: An diesem Tag wird der Badeort durch ein schreckliches Verbrechen erschüttert, denn in einem Mehrfachmord sterben der Bürgermeister und seine Familie sowie eine zufällige Passantin. Zwei jungen Polizisten, Jesse Rosenberg und Derek Scott, werden die Ermittlungen übertragen, und sie gehen ihrer Arbeit mit größter Sorgfalt nach, bis ein Schuldiger gefunden ist. Doch zwanzig Jahre später behauptet die Journalistin Stephanie Mailer, dass Rosenberg und Scott sich geirrt haben. Kurz darauf verschwindet die junge Frau ... - Die idyllischen Hamptons sind Schauplatz einer fatalen Intrige, die Joël Dicker mit einzigartigem Gespür für Tempo und erzählerische Raffinesse entfaltet. --- »Macht süchtig!« Elle

Ein weiteres Buch, das ich soeben las und das mich vor allem emotionell sehr bewegte, fand ich im Auschwitz-Museums-Laden (Ich bsuchte mit meiner Frau das Konzentrations-/Vernichtungslager Auschwitz anfangs Mai 2019. 

“Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ von Manfred Deselaers.

Der Autor Manfred Deselaers ist ein katholischer Priester, in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert, lebt seit 1990 in der Stadt Auschwitz. Im ersten Teil seiner Ausführungen geht er anhand sehr ausführlichen Quellenmaterials (Tagebücher, Selbstaussagen von Rudolf Höss, dem Kommandanten von Auschwitz, und vielen weiteren Berichten über ihn) auf die Persönlichkeit und seines Wirkens von Höss in dieser fürchterlichen Mordmaschinerie von Auschwitz ein. Das sind eigentlich historische Fakten, die da exakt abgerollt werden. 

Ich muss all diesen Schilderungen mit genauer Quellenangabe grosses Lob aussprechen. Der Mensch Höss bekommt dadurch für mich „ein Gesicht“, allerdings ein fürchterliches!

Im weiten Teil, der dann sehr philosophisch und v.a. theologisch wird, leuchtet der Autor dann in einer antropologisch-theologischen Analyse die Biografie von Höss aus. Mit den Folgerungen habe ich dann recht grosse Mühe. Eine Bestie, die für die systematische und brutale Ermordung von Hunderttausenden unschuldiger v.a. von jüdischen Menschen, verantwortlich ist (und teilweise direkt, aber v.a. indirekt Hand anlegte), gibt es aus meiner Sicht eigentlich keine grosse „Analyse“. So ein Mensch (und er ist natürlich nicht der einzige, der während der Shoa Unmenschliches verbrach) verdient eigentlich nur eines: Verurteilung durch den Strang. Ich lese aus diesem Buch eigentlich von Seiten von Höss kein Gefühl von Mitleid, von eigener Schuld, gegenüber den Opfern. Am Schluss, in der Folge seiner Inhaftierung, höre ich dann, dass er erstaunt war über das (polnische) Bewachungspersonal , dass ihm mit „Menschlichkeit“ begegnete! Aber in diesem Buch lese ich nirgends ein Bedauern über die Ideologie der Judenvernichtung. Rein gar nichts.

Man redet ungerne über diesen Aspekt: aber ich empfand beim Lesen dieses Buches dieser schrecklichen Bestie gegenüber nicht nur Abscheu und Hass, sondern bei mir kamen ganz konkret Gefühle der Rache herauf. So ein „Mensch“, der eigentlich während seiner Tätigkeiten immer an den „Endsieg“ glaubte, ist in meinem Augen kein „Mensch“ mehr und verdient es auch nicht, als Mensch wahrgenommen und empfunden zu werden. 

Dieser ehemalige Kommandant von Auschwitz  schrieb am Schluss seiner Autobiografie das folgende, das eigentlich – für mich jedenfalls – alles aussagte über ihn: „Mag die Öffentlichkeit ruhig weiter in mir die blutrünstige Bestie, den grausamen Sadisten, den Millionenmörder sehen – denn anders kann sich die breite Masse den Kommandanten von Auschwitz gar nicht vorstellen. Sie würde doch nie verstehen, dass der auch ein herz hatte, dass er nicht schlecht war.“ – Das „Herz“ spreche ich diesem Mann ab!  

Für mich war es eine Qual, alle diese Einzelheiten über so einen Mann zu lesen. Nur mit Mühe konnte ich mich durch diese Seiten mit allen Schilderungen über Person Höss und seine Taten  kämpfen. Meine Eindrücke von meinem Auschwitz-Besuch – mein persönliches Erleben und Empfinden auf dem Gang (physisch und psychisch) durch diese schreckliche Hölle von Auschwitz im Mai 2019 – waren noch klar genug. Aber ich musste es tun, praktisch aus Solidarität mit meinen Glaubensgenossen, die dieses millionenfache Leid als Shoa-Opfer über sich ergehen mussten.

2018